Ukrainische Gegenoffensive: Unterwegs auf vermintem Gebiet
Die ukrainische Armee hat die erste russische Verteidigungslinie durchbrochen. Geht ihre Gegenoffensive nun schneller voran?
Es ist das positive Zeichen, auf das die Ukraine und ihre Unterstützer lange gewartet haben. Bei ihrer Gegenoffensive haben ukrainische Truppen die erste von drei russischen Verteidigungslinien im Südosten des Landes durchbrochen. Eine Verteidigungslinie, die aus riesigen Minenfeldern, höckerförmigen Panzersperren aus Beton und breiten Gräben besteht, die gepanzerte Fahrzeuge nicht ohne Unterstützung überqueren können.
In einem Interview mit der britischen Zeitung The Observer erklärte der ukrainische Brigadegeneral Oleksandr Tarnavskiy: „Wir sind nun zwischen der ersten und zweiten Verteidigungslinie.“ Eine Aussage, die westliche Militäranalysten anhand von Aufnahmen ukrainischer Einheiten bestätigten, die eindeutig einem bestimmten Ort zugeordnet werden konnten.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Es ist noch kein vollständiger Durchbruch, sondern eine lokale Bresche, die die Ukraine um das Dorf Robotyne geschlagen hat. Aber es ist ein Zwischenerfolg, der auch deshalb so wichtig ist, weil in den vergangenen Wochen die Kritik an den langsamen Fortschritten der ukrainischen Gegenoffensive lauter geworden war.
Anonyme Quellen aus dem Pentagon und den US-Geheimdiensten hatten mehrmals Zweifel daran geäußert, dass die Ukraine die Ziele ihrer Gegenoffensive – nämlich so weit vorzurücken, um die russische Landverbindung zur Krim zu durchtrennen – noch rechtzeitig vor dem Beginn der Schlammzeit erreichen könne. Sechs bis acht Wochen bleiben noch, bis der einsetzende Regen im Herbst den Boden so aufweicht, dass schwere Fahrzeuge nicht mehr vorankommen.
Kamikazedrohnen und Minenfelder
Tarnavskiys Interview ist daher auch Teil des Informationskriegs, in dem um die Deutungshoheit über die Ereignisse gerungen wird. Seiner Einschätzung nach hat Russland 60 Prozent seiner Ressourcen in den Ausbau der ersten Verteidigungslinie investiert, 20 Prozent in die zweite Linie, ebenso 20 Prozent in die dritte. Man müsste jetzt also deutlich schneller vorankommen. „Alles liegt nun vor uns“, gab Tarnavskiy sich zuversichtlich.
Er gestand aber auch ein, dass die Ukraine gehofft hatte, schneller durch die Minenfelder zu kommen. Der Einsatz von Minenräumfahrzeugen sei nicht möglich gewesen, weil russische Artillerie und Kamikazedrohnen diese sofort angegriffen hätten, wenn sie auf dem flachen Gelände angerückt wären. Infanteriesoldaten mussten deshalb bei Nacht von Hand die Minen räumen, um eine Durchfahrtsmöglichkeit für Panzer und Transporter zu schaffen.
Geholfen haben dabei Bilder von Wärmekameras. Weil sich die Minen im Boden bei Sonne stärker aufheizen als ihre Umgebung, konnten die ukrainischen Soldaten mit den Kameras einen Lageplan der Sprengsätze erstellen. Allerdings schlossen russische Soldaten Lücken auch immer wieder mit Minenwerfern und Drohnen, die Minen neu ablegten. Zudem waren viele Minen doppelt, teils dreifach untereinander verlegt.
Wie schwierig und gefährlich das Räumen ist, zeigt ein Video auf Twitter von einem anderen Abschnitt der Front, an dem kein direkter russischer Beschuss droht. In der gleißenden Sonne mit nacktem Oberkörper legt ein ukrainischer Soldat mit den Händen und einem langen Messer eine Panzermine frei, unter der noch eine Granate sitzt, die er ertastet hat.
Der Zünder der Granate wird vom Gewicht der Mine nach unten gedrückt. Nimmt man die Mine raus, ohne den Zünder vorher zu fixieren, explodiert die Granate sofort. In dem Video stemmt der Soldat mit geübter Routine mit der einen Hand die Panzermine aus dem Boden, während er mit der anderen Hand den Zünder der Granate nach unten drückt. Erst als er den Sicherungsstift an der Granate eingesteckt hat, kann er ihn loslassen.
Russland hat die mehr als 800 Kilometer lange Verteidigungslinie so dicht vermint, wie man das vorher noch nicht kannte. Aber die Minenfelder sind nur eines der Probleme, mit denen die Gegenoffensive zu kämpfen hatte.
Die US-Militäranalysten Michael Kofman und Rob Lee haben gerade eine vielbeachtete Zwischenbilanz der Offensive veröffentlicht, nachdem sie im Juli an der Front selbst Eindrücke gesammelt und zahlreiche Berichte ausgewertet hatten. Sie beschreiben, wie die fehlende Lufthoheit der Ukraine zu schaffen machte. Die russischen Kampfhubschrauber zerstörten mit ihren Raketen auch schwere westliche Panzer wie den Leopard 2.
Kofman und Lee betonen, dass keine Armee der Welt Erfahrungen mit einer solchen Offensive ohne Luft-Nahunterstützung hat. Aber auch beim Zusammenspiel der anderen Waffengattungen gab es auf ukrainischer Seite zunächst Probleme. So erlitt eine Einheit schwere Verluste, weil der Angriff nicht genau abgestimmt war: Eigentlich schießt die Artillerie zunächst aus weiter Entfernung auf die Stellungen des Gegners, im Zuge dieses Feuerschutzes rücken die gepanzerten Fahrzeuge vor. In diesem Fall kamen diese aber zu spät, der ukrainische Artillerieangriff war schon vorbei – und so konnte die russische Artillerie den Angriff zusammenschießen.
Weil die Ukraine mit den ersten größeren Attacken zunächst scheiterte, stellte sie ihre Taktik um. Zum einen versuchte sie mit schwerem Artilleriebeschuss, die russischen Stellungen abzunutzen – daher auch der große Bedarf an Munition –, zum anderen rückte sie mit kleinen Soldatentrupps zu Fuß vor, von Baumlinie zu Baumlinie zwischen den einzelnen Feldern. Auch das führte dazu, dass es so langsam voranging.
Entscheidend, da sind sich die meisten Militäranalysten einig, werden nun die nächsten zwei bis drei Wochen sein. Kann die Ukraine die weiteren Verteidigungslinien durchbrechen und damit von einem Stellungskrieg in den Bewegungskrieg kommen? Und hat sie genug Soldaten und Materialreserven, um den Durchbruch auch ausnutzen zu können?
Eine Gefahr sei, dass der Ukraine auf dem freien Gelände die Reserven ausgehen könnten, warnen Militärs. Dann müsste sie sich wieder auf Positionen zurückziehen, die sich besser verteidigen lassen.
Wie viele Reserven beide Seiten noch haben, weiß niemand genau. Die Ukraine macht dazu, genauso wie zu der Zahl der Getöteten und Verwundeten, keine Angaben. Bei einer Offensive verliert der Angreifer in der Regel mehr Soldaten als der Verteidiger, allerdings soll Russland bei Entlastungsangriffen auch hohe Verluste erlitten haben.
Aus der Beobachtung der Truppenbewegung lässt sich sagen, dass beide Seiten bereits Reserven in der Gegend um Robotyne im Einsatz haben. Die russische Armee versucht, im Norden der Front immer wieder Gegenangriffe Richtung Kupjansk zu starten. Die Ukraine konnte diese bisher weitgehend abwehren, doch das bindet auch auf ihrer Seite viele Soldaten im Norden. Es gibt aber Berichte, dass wegen der ukrainischen Erfolge um Robotyne nun russische Elitetruppen aus dem Norden nach Süden verlegt werden, um einen ukrainischen Vormarsch zu stoppen. Außerdem würden Reserven aus Russland an die Front verlegt.
Verkehrsknotenpunkte und die Verbindung zur Krim
Von ihrer Position bei Robotyne aus ist für die Ukraine das naheliegendste Ziel nun Tokmak, eine 32.000-Einwohner-Stadt, die sowohl für das Straßen- als auch für das Eisenbahnnetz ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt ist. Danach könnte sie Melitopol ins Visier nehmen. Wenn das gelänge, könnte die Ukraine die russische Landverbindung zur Krim ernsthaft gefährden.
Unterschiedliche Einschätzungen gibt es unter Militäranalysten aber, ob diese Städte überhaupt erobert werden müssen. Ein Kampf um einzelne Häuser und Straßenzüge ist sehr langwierig und extrem blutig, wie man in Bachmut gesehen hat.
Möglich wäre auch, dass die ukrainischen Truppen diese Städte umgehen und sich darauf konzentrieren, Positionen zu besetzen, von denen sie die Verkehrsverbindungen kontrollieren oder immer wieder attackieren können. Das könnte schon reichen, um die russische Versorgung der Krim zu unterbrechen oder zumindest stark zu stören. Zum genauen Ziel ihrer Gegenoffensive hat sich die ukrainische Seite nie geäußert. Um den Gegner im Unklaren zu lassen – aber auch, weil sich das je nach Lage vor Ort verändern kann und man auch Gelegenheiten nutzen will, die sich auftun.
Russland setzt unterdessen weiter auf Terror gegen die Zivilbevölkerung. Am Mittwoch traf eine russische Rakete einen belebten Marktplatz in der 70.000-Einwohner-Stadt Kostjantyniwka, rund 15 Kilometer von der Front entfernt. 16 Menschen starben dabei, darunter auch ein Kind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Bisheriger Ost-Beauftragter
Marco Wanderwitz zieht sich aus Politik zurück