: Übertriebene Hygiene
Kinder, die auf dem Bauernhof aufwuchsen, leiden seltener an Asthma und Allergien als Stadtkinder. Die frühkindliche Konfrontation mit Keimen verhindert die Entstehung von Autoimmunerkrankungen
von IRENE MEICHSNER
Spielen im Kuhstall statt im Sandkasten? Ein Glas Milch, direkt vom Euter? Das kann in einer Großstadt wie Berlin keine ernst gemeinte Empfehlung sein. Doch den wissenschaftlichen Segen hätte sie. „Essen Sie Dreck, oder ziehen Sie auf einen Bauernhof!“ So fasste Scott Weiss, US-Mediziner an der Harvard-Universität in Boston, das Ergebnis einer streng wissenschaftlichen Studie etwas salopp zusammen. Denn inzwischen scheint erwiesen, was lange vermutet wurde: Kinder, die in einer ländlichen Umgebung aufwachsen, wo noch Viehzucht betrieben wird, leiden seltener als andere Kinder an Asthma und Allergien. Und das liegt wahrscheinlich auch an dem allgegenwärtigen Dreck, der sogar noch in den Kinderbetten seine Spuren hinterlässt.
Forscher aus der Schweiz, Deutschland und Österreich untersuchten – unter Leitung von Charlotte Braun-Fahrländer vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Basel – Staubproben aus Matratzen von insgesamt 812 6 bis 13 Jahre alten Kindern. Sie zählten bei Kindern, die auf Bauernhöfen leben, etwa doppelt so viele Bakterienreste tierischen Ursprungs, so genannte Endotoxine, wie in den Betten von Kindern, die zwar auch in ländlichen Regionen wohnen, deren Eltern aber keine Landwirtschaft betreiben. Zugleich litten die Kinder vom Bauernhof nur etwa halb so oft an Heuschnupfen (4,1 Prozent der Bauernkinder; 10,5 Prozent der anderen) oder Asthma (3,1 bzw. 5,9 Prozent).
Blutproben bestätigten das Ergebnis. Das Immunsystem der Bauernkinder hatte sich häufiger mit gesundheitlich unbedenklichen Keimen auseinandergesetzt. „Weil sie ständig mit Keimen konfrontiert werden, wird ihr Immunsystem toleranter – es gewöhnt sich an harmlose Bakterien und schaltet dann quasi ab“, vermutet Harald Renz vom Uniklinikum Marburg.
Am deutlichsten sei der Effekt, so Albrecht Bufe von der Ruhr-Uni Bochum, „wenn sich Kinder schon im ersten Lebensjahr regelmäßig in Ställen aufhielten und unbehandelte Kuhmilch tranken“. Also doch der Rat an alle jungen Mütter – Kisten packen und raus aufs Land?
Mit praktischen Folgerungen aus ihren Erkenntnissen sind Wissenschaftler von Haus aus vorsichtig. Doch der Verdacht, dass der Mensch sich und seinen Abwehrkräften mit einer „porentief reinen“ Umgebung keinen großen Gefallen tut, drängt sich nicht zum ersten Mal auf.
Fachleute haben wiederholt vor überzogener Hygiene gewarnt – und auch vor einer Werbung, die nicht zuletzt auf kleine Kinder und deren besorgte Mütter zielt. „Lassen Sie Ihr Kind nicht auf allen Viren durch die Wohnung krabbeln“: dieser Werbeslogan für das Desinfektionsmittel Sagrotan suggerierte sogar eine keimfreie Umgebung als kindgerecht.
Sich deshalb nur über einen allgemeinen „Sauberkeitsfimmel“ zu ereifern, wäre gleichwohl ungerecht. Immerhin begreifen auch Mediziner erst allmählich, dass man daraus, dass potenziell allergieauslösende Stoffe („Allergene“) eine bereits vorhandene Allergie verschlimmern können, nicht den voreiligen Schluss ziehen sollte, dass man Kinder vor Allergien schützt, wenn man sie vor solchen Stoffen möglichst bewahrt. Vieles spricht im Gegenteil dafür, dass das Immunsystem gar nicht früh genug trainiert werden kann, wenn es sich richtig entwickeln soll.
Kinder, die erst später auf den Bauernhof gezogen waren, litten jedenfalls ähnlich häufig an Allergien und Asthma wie andere Kinder. So ließen sich auch die bislang widersprüchlichen Daten etwa zu Katzenallergien erklären. Auch hier kommt es womöglich nicht darauf an, ob Kinder mit einer Katze in Berührung kommen, sondern darauf, dass dieser Kontakt früh und intensiv genug stattfindet, damit ein unvorbereitetes Immunsystem später nicht falsch reagiert.
Völlig geklärt sind all diese Fragen noch nicht, Leiden wie Asthma können viele Ursachen haben. Das wissen auch die Herausgeber des New England Journal of Medicine, eines der weltweit anerkanntesten medizinischen Fachblätter, die der „Hygiene-Hypothese“ im vorigen Jahr durch ihre Veröffentlichung gewissermaßen die höchsten wissenschaftlichen Weihen verliehen. Und sie packten gleich noch ein weiteres heißes Eisen an. Denn auch andere Erkrankungen nehmen zu, bei denen das Abwehrsystem aus dem Ruder zu laufen scheint und seine Bataillone gegen den eigenen Körper richtet: Diabetes, Multiple Sklerose oder die Darmentzündung Morbus Crohn.
Über die Gründe für den alarmierenden Anstieg solcher „Autoimmunkrankheiten“ wird viel spekuliert. Jean-François Bach vom französischen Nationalinstitut für medizinische Forschung (Inserm) weist auf einen möglichen Zusammenhang mit dem Rückgang von Infektionskrankheiten in den westlichen Ländern hin. Verbesserte Hygiene, höherer Wohlstand, Antibiotika und Impfstoffe: so segensreich sie sind, sie könnten auch dazu geführt haben, dass sich ein überschießendes Immunsystem gegen den eigenen Körper kehrt.
Dass der Einsatz von Antibiotika die Abwehrkraft auch schwächen kann, hat sich inzwischen herumgesprochen. Im Hinblick auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Impfungen und Autoimmunkrankheiten gebe es „bislang keine soliden Daten“, gibt Bach unumwunden zu. Zweierlei steht zur Debatte. Entweder Impfstoffe befördern die Entwicklung eines gesunden Immunsystems, weil sie es durch unschädlich gemachte Erreger stimulieren. Oder sie bringen es aus dem Tritt, weil sie die Infektionskrankheiten verhindern, bei denen das Immunsystem lernen könnte, wie man sich mit Krankheitserregern richtig auseinander setzt. Die erschreckende Zunahme von Autoimmunkrankheiten lässt hier gar keine Wahl. Offenbar ist es höchste Zeit, dass die Wissenschaft sich in dieser Frage möglichst bald Klarheit verschafft.