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ESSAYÜberleben, Ehre und Recht

■ Die Konferenz von Madrid als Schritt in die Wirklichkeit des Jahres 1991

Für Israel ging es nicht um Ehre und Demütigung, sondern um Leben und Tod“, schreibt Elie Wiesel in seinem Roman Der Bettler von Jerusalem, der in der Zeit des Sechs-Tage-Krieges von 1967 spielt. Ein Satz, der den Kern des nahöstlichen Konflikts berührt, der präzise die Kluft benennt, die die Völker in der Region seit Jahrzehnten trennt: der Kampf um die eigene Existenz, das Überleben, auf der einen Seite, der um das Auflehnen gegen tief empfundenes Unrecht, Schmach und Verletzung der Würde auf der anderen. Für beide hat sich die Zeit als relativer Faktor erwiesen; ob etwas vor einem, hundert oder viertausend Jahren geschah, war nicht von Bedeutung. Die Bruderkämpfe, die sich bis in die biblische Zeit zurückführen lassen, die daraus hervorgegangenen kollektiven Erfahrungen, Legendenbildungen und politisch-kulturellen Identitäten überlagerten die Geschichte und haben den Einstieg in eine konkrete, realistische Politik blockiert. Auch die in Madrid gehaltenen Reden spiegeln dies wider. Doch wenn es nach der Nahostkonferenz Anlaß zur Hoffnung gibt, dann vor allem deshalb, weil sie zu einem ersten Bruch mit dieser Vergangenheit geführt hat.

Ein wirklich gewollter Einstieg in die Gegenwart verlangt von allen Seiten ein grundlegendes Umdenken, eine tiefgreifende Neuorientierung, die in ihren Folgen für die jeweiligen Gesellschaften noch gar nicht absehbar sind. Ein solcher Schritt bedeutet den Abschied von liebgewordenen Mythen, von Feindbildern, die die Herrschenden zur Legitimation ihrer Politik zu nutzen wußten. Von Selbstbildern und Projektionen der anderen, mit denen es sich gut und auch selbstgerecht leben ließ, die es möglich machten, die Schuld für Geschehenes nie bei sich selbst zu suchen. Daher macht es Sinn, wenn US-Außenminister Baker immer wieder darauf verweist, daß dem Faktor Zeit bei dem geplanten Friedensprozeß eine entscheidende Rolle zukommt, der Prozeß also lange dauern muß, um einen grundsätzlichen Neuansatz überhaupt erst zu ermöglichen. Alleine, ohne den „Katalysator“ USA und mit der Sowjetunion als Sekundant wären die Beteiligten gar nicht erst in den „Bus zum Frieden“ eingestiegen; die Vermittlung der USA wird auch künftig gefragt sein. Man kann nur hoffen, daß diese Rolle nicht dem heimatlichen Vorwahlkampf zum Opfer fallen wird: Die Geister der Vergangenheit lauern noch in allen Ecken. Aber ein Anfang ist gemacht.

Eine neue Generation

Auf palästinensisch-arabischer Seite wird das Umdenken am besten durch die Person Hanan Ashrawis verkörpert. Persönlichkeiten aus den besetzten Gebieten, deren Namen noch vor kurzem keiner kannte, machen plötzlich gewieften Politikern und Karrierediplomaten das Rampenlicht der Öffentlichkeit streitig. Eloquent, selbstbewußt und überzeugend betrat mit Ashrawi eine Frau die Bühne und wußte ihr Anliegen gut begründet und in einer Sprache vorzutragen, die dem Inhalt angemessen war. Ohne hohle Schlagwörter, ohne martialische Töne hat die Repräsentantin einer gutausgebildeten und welterfahrenen palästinensischen Mittelschicht aus den besetzten Gebieten in flüssigem Englisch auch einer alternden Generation von Exilpolitikern im Ausland Paroli geboten — ohne sich freilich politisch von ihr abzusetzen oder auseinanderdividieren zu lassen. Eine Karikatur bringt dieses neue Phänomen auf den Punkt: Sie zeigt zwei Palästinenser, die vor einem Plakat stehen, auf dem PLO-Chef Arafat und der Ostjerusalemer Palästinenserführer Faisal al Husseini abgebildet sind. Der eine Betrachter meint: „Den einen kenne ich, das ist Faisal al Husseini, aber wer ist der schlecht rasierte Kerl daneben?“

Neben Hanan Ashrawi verblaßt das Bild des Palästinensers mit der Kuffiye, der traditionellen Kopfbedeckung, und dem trotzig in den Himmel gereckten Gewehr ebenso wie der Mythos des Märtyrers, der „mit seiner Seele, mit seinem Blut“ für die gerechte Sache, die Befreiung Palästinas, kämpft. Abschied genommen werden muß nun auch von einem Topos, der überall in der arabischen Welt, zu jedem Ort, zu jeder Zeit, heruntergebetet wurde: dem Klischee angeblicher Verschwörungen finsterer Mächte, sei es der US- Imperialismus, der Zionismus, das Freimaurertum oder alle zusammen. Diese Flucht aus der Verantwortung muß nun ein Ende haben. Eine neue Generation ist angetreten, die bereit ist, diese Verantwortung auf sich zu nehmen, gegenüber dem eigenen Volk und gegenüber den Nachbarn.

Vorbei ist auch der Mythos der „gemeinsamen arabischen Position“. Die PLO in Tunis und die Palästinenser in Madrid haben eine kluge Entscheidung getroffen, als sie sich endgültig von den arabischen Umarmungen, die häufig genug tödliche Erstickungsversuche waren, freimachten und alleine, ohne „arabische“, sprich syrische, Zustimmung in die bilateralen Gespräche mit Israel gingen. Dieser Mythos gehörte spätestens seit dem Scheitern des arabischen Sozialismus der Vergangenheit an. Es ist eine bemerkenswerte Randerscheinung von Madrid, daß es nicht die „prowestlichen“ Staaten der Region, sondern die Palästinenser sind, die diesen Bruch öffentlich vollzogen haben und in der arabischen Welt als Speerspitze jener Werte auftreten, von denen gemeinhin behauptet wird, der Westen verkörpere sie.

Aber auch die israelische Delegation hat in Madrid gezeigt, daß sie bereit ist, über die Schatten der Vergangenheit zu springen und sich auf die Wirklichkeiten des Jahres 1991 einzulassen. Dafür spricht die Bereitschaft, künftig auch mit den Palästinensern alleine zu verhandeln und sie damit de facto den Vertretern von Staaten gleichzusetzen. Hierzu gehört auch die erstmalige, öffentliche und offizielle Ankündigung, über den Frieden im Nahen Osten auf der Grundlage der Resolutionen 242 und 338 und damit der internationalen Legalität zu verhandeln. Damit wird die Möglichkeit eines Abzugs aus den besetzten Gebieten zumindest eröffnet. Und dies obwohl die Geister der Vergangenheit gerade in der israelischen Argumentation eine große Rolle spielen, wie der Streit um den Ort der bilateralen Gespräche zeigt.

Abschied vom Selbstbild

Hinter diesem vordergründigen Disput steckt denn auch mehr als nur eine unnachgiebige, maximalistische Haltung Israels. Der Streit verweist vielmehr zurück auf den Kern des Problems: die Anerkennung des Existenzrechts Israels, das „nicht verhandelbar“ (Nethanyahu) ist, geht es doch um das sichere Überleben der jüdischen Staaten inmitten einer feindlichen Umwelt. Um dieses Argument zu stärken, wurde der stellvertretende israelische Außenminister nicht müde, jedweder arabischen Stellungnahme die Absicht der Vernichtung Israels zu unterstellen. Wenn der Frieden eine Chance haben soll, dann werden sich die Israelis von einem Selbstbild verabschieden müssen, das letztendlich lautet: „Israel ist das Ghetto“ (Wiesel). Voraussetzung hierfür ist die längst überfällige Anerkennung Israels durch seine Nachbarstaaten. Und auch hier ist es gerade die PLO gewesen, die eine Vorreiterrolle spielte. Solange Israel sich als Ghetto, als Fremdkörper in der Region empfindet und auch von außen so wahrgenommen wird, solange wird kein wirklicher Frieden einkehren. Erst wenn Israel von dem Selbstbild eines um das Überleben, um Leben und Tod kämpfenden Staates Abschied nehmen kann, erst wenn die andere Seite von einer falsch verstandenen Ehre Abstand nimmt, die das Existenzrecht anderer negiert, kann eine neue Seite in der Geschichte des Nahen Ostens aufgeschlagen werden.

Diese neue Seite kann aber nur aufgeschlagen werden, wenn die Anerkennung des Rechts auf ein menschenwürdiges Leben in Sicherheit nicht nur nach außen, gegenüber dem anderen, sondern auch nach innen garantiert wird. Ohne gleiche Rechte für die Minderheiten im Alltag, ohne die Freiheit der Meinung und der politischen Betätigung kann es nur einen halben Frieden geben. Gerade in einer Region, die in der Geschichte schon immer Durchgangsstation für auswärtige Eroberer war und somit ganz unterschiedlichen kulturellen Einflüssen unterlag, einer Region, in der kein Land so homogen ist, wie es die jeweils Herrschenden gerne darstellen, ist das conditio sine qua non für den Weg in eine bessere Zukunft. Aufgabe der heutigen Politiker ist es jedoch, dafür zu sorgen, daß ihren Nachfolgern dieser Weg überhaupt erst eröffnet wird. Aus dieser Verantwortung können sie sich nach Madrid nicht länger davonstehlen. Und das ist ein ausgesprochen positives „Ergebnis“. Beate Seel

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