Übergriffe beim Berliner Karneval: „Die Frauen waren wehrlos“
Nicht selten werden Frauen im Gedränge sexuell belästigt. Dass sie aber von Männern auch eingekesselt werden, hat die Polizei erstmals registriert, so die Polizei.
taz: Herr Neuendorf, sind sexuelle Übergriffe bei Massenveranstaltungen wie dem Karneval der Kulturen in Berlin ein neues Phänomen?
Thomas Neuendorf: So etwas hat es immer gegeben. Aber acht Anzeigen über ein verlängertes Wochenende? Das ist viel. 2015 ist bei Karneval der Kulturen ein Vorfall angezeigt worden.
In sieben der acht Fälle sind Frauen umzingelt worden, heißt es. Was geschah dann?
Nach den Schilderungen der Frauen sind sie von größeren Männergruppen – zehn bis zwölf Personen – umringt worden. Die Frauen haben angezeigt, dass ihnen einzelne Täter an die Brust, den Po oder in den Schritt gegriffen haben. Die gleiche Vorgehensweise also, wie sie aus der Silvesternacht in Köln bekannt ist: das Festhalten im Männerkreis und das Begrapschtwerden.
Wurden die Frauen auch bestohlen?
In einem Fall wurde ein Handy entwendet; die restlichen sieben Taten waren ohne Diebstahl.
Halten Sie es für denkbar, dass ähnliche Dinge auch schon in den Vorjahren geschehen sind, aber nicht angezeigt wurden?
Das ist schwer einzuschätzen. Vorstellbar ist, dass Frauen, die in der Menge begrapscht wurden, früher nicht unbedingt zur Polizei gegangen sind, und dass es nach Köln bei den Geschädigten eine höhere Bereitschaft gibt, solche Delikte anzuzeigen. Aus unserer Sicht ist das absolut zu befürworten. Nur wenn wir um die Vorgänge wissen, können wir gezielt gegen diese Täter vorgehen.
59, ist Erster Kriminalhauptkommissar und seit dem Jahr 2009 stellvertretender Leiter der Pressestelle der Berliner Polizei.
Einige der betroffenen Frauen sollen bei der Polizei vollkommen verstört gewesen sein und geweint haben. Ist Ihnen aus den Vorjahren vom Karneval Ähnliches bekannt?
Nein. Das gab die Anzahl der Fälle gar nicht her. In diesem Jahr war es so, dass die Frauen wirklich massiv bedrängt wurden, sie fühlten sich nicht nur wehrlos in dieser Männerrunde, sie waren es auch. Und wenn dann noch solche Aussprüche kommen wie: „Ihr Schlampen wollt das doch“, dann ist das zutiefst verstörend.
Vier Tatverdächtige wurden festgenommen. Was wissen Sie über diese Personen?
Der 14-Jährige hat die deutsche Staatsangehörigkeit, die anderen drei die türkische Staatsangehörigkeit.
Normalerweise gibt die Polizei die Nationalität nur auf Nachfrage preis. Warum verfahren Sie diesmal anders?
Mit Blick auf Köln finden wir das wichtig. Die Ereignisse in Köln sind ja immer mit Flüchtlingen in Verbindung gebracht worden, die frisch aus den Maghreb-Staaten nach Deutschland gekommen sind. Wir sagen das, weil es sich bei den Tatverdächtigen mitnichten um Flüchtlinge handelt, die neu nach Berlin gekommen sind. Alle vier Männer haben in Berlin einen festen Wohnsitz. Zum Teil sind sie sogar hier geboren.
Wie lautet der Vorwurf?
Der 40-jährige Tatverdächtige soll allein gehandelt haben. Die anderen drei Personen – der 14-Jährige und zwei 17-Jährige – sollen zu dritt mit anderen gehandelt haben. Das war auch eine Gruppe von zehn bis zwölf Personen. Im Wortlaut heißt es in der Anzeige: Plötzlich wurden beide Geschädigten durch die zehnköpfige Personengruppe eingeschlossen, angetanzt und dabei im Intimbereich angefasst.
Was weiß man über die nicht ermittelten Tatverdächtigen?
Da haben wir letztendlich nur diese Personenbeschreibungen von zehn bis zwölf Männern im jung erwachsenen Alter, also zwischen 16 und 20 Jahren. Alle Frauen haben sie als dunkelhaarig, südländischer Phänotyp beschrieben.
Kann es sein, dass es sich mehrmals um ein und dieselbe Gruppe gehandelt hat?
Das wird Gegenstand der Ermittlungen sein. Aber es ist nicht auszuschließen, weil die Taten jeweils zu anderen Zeiten stattgefunden haben.
Wie groß sind die Chancen, die Männer zu ermitteln?
Es ist umso erfolgversprechender, je schneller die Polizei informiert wird. Gerade auf so einem Straßenfest entfernen sich die Täter nicht wirklich. Meistens sind sie noch unterwegs und können von Opfern identifiziert werden. Schwierig wird es für uns, wenn im Nachhinein über das Internet eine Anzeige erstattet wird. Dann gibt es nur geringe Chancen, Tatverdächtige zu bekommen.
Ganz neu ist das Phänomen des Angetanztwerdens mit krimineller Absicht in Berlin nicht.
Das ging vor circa einem Jahr am RAW-Gelände in Friedrichshain los. Dort hatten wir eine Häufung der Taten. Allerdings waren dort Taschendiebstahl und sexuelle Belästigung stark vermischt. Es war nicht immer klar, ob das geschah, um das Opfer vom Diebstahl abzulenken, oder ob es sozusagen gewollte Mitnahme war, da mal anzugrapschen. Oder aber, ob der Täter eigentlich angrapschen wollte und die Gelegenheit genutzt hat, etwas zu entwenden. Deshalb gibt es seit April auch die Ermittlungsgruppe „Antänzer“, die alle derartigen Taten bearbeitet.
Auf welche Schwierigkeiten stößt die Polizei bei den Ermittlungen?
Rein strafrechtlich handelt es sich oft um einen einfachen Diebstahl oder um eine Beleidigung.
Sie meinen das Angrapschen?
Das kommt drauf an. Kurzes Anfassen kann strafrechtlich eine Beleidigung auf sexueller Grundlage sein. Wenn mehr passiert – das Opfer zum Beispiel auch festgehalten wird –, kann es auch eine sexuelle Nötigung sein. Dem Strafgesetzbuch zufolge führt das aber nicht automatisch zu einem Haftbefehl. Die Beamten der Ermittlungsgruppe „Antänzer“ sammeln Erkenntnisse, um den Nachweis zu erbringen, dass diese Tätergruppen organisiert vorgehen und den Diebstahl gewerbsmäßig betreiben. Mit diesen gesammelten Informationen kann auch ein Haftbefehl erlangt werden.
Was haben die beim Karneval eingesetzten Zivilfahnder bewirkt?
Mit ihrer Hilfe ist es gelungen, sieben Tatverdächtige festzunehmen, gegen die dann auch Haftbefehl erlassen worden ist. Es handelt sich aber ausschließlich um Antänzer, die keine sexuellen Belästigungen begangen haben. Sie haben Antanztaten ausschließlich mit dem Ziel des Diebstahls gemacht – ohne weitere körperliche Berührungen.
Wie lautet Ihre Schlussfolgerung für die Arbeit der Polizei bei künftigen Massenveranstaltungen?
Seit Köln achten die eingesetzten Polizeikräfte verstärkt auf dieses Phänomen. Wir müssen das offensichtlich noch weiter ausbauen, um die Frauen zu schützen.
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