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Überführt

■ Rocards „Alltagsdemokratie“: Eine Worthülse

Was wir brauchen, wonach alle Franzosen verlangen, das ist das Erscheinen der Alltagsdemokratie.“ Nicht ohne die für einen sozialistischen Regierungsantritt gebührende Euphorie hatte Michel Rocard in seiner Regierungserklärung ein neues politisches Credo verkündet. Und schon im nächsten Satz fuhr er fort: „Denken wir einmal über die Lage nach, die unser Land den Frauen bereitet. (...) Sie bleiben vom sozialen Dialog ausgeschlossen.“ Frankreich dachte nach.

Rocards teure Worte fanden ein in der französischen Gesellschaft unerwartetes Echo. Man dachte, die Franzosen seien verfangen in sozialer Apathie. Doch plötzlich standen die Krankenschwestern des ganzen Landes auf der Straße. Es waren Frauen, die über Jahrzehnte vom sozialen Dialog ausgeschlossen waren. Weil die Gewerkschaften ihnen nie Gehör verschafften, wählten sie ihre eigene „Nationale Koordination“. Ihre Forderungen entwickelten sich mit der breiten öffentlichen Unterstützung, schnell zum sozialen Anliegen der Nation. Kurz, die Franzosen meinten, die Alltagsdemokratie solle im Krankenhaus beginnen.

Welche Chance für Rocard! Sein Vorgänger Chirac hatte Schüler und Studenten niederknüppeln lassen, was ihm die Franzosen nie verziehen. Der neue Regierungschef hätte nun zeigen können, wie die von ihm versprochene „Versöhnung von Staat und 'societe civile'“ politisch umsetzbar ist. Was aber geschah? Rocard ließ seinen Gesundheitsminister während der ersten drei Streikwochen mit den diskreditierten Gewerkschaften verhandeln und empfing erst in letzter Minute die Nationale Koordination. Am Sonntag gaben die Krankenschwestern - von Notdiensten ermüdet und von der Regierung enttäuscht - den Streik auf. Ihnen blieb ein bitterer Trost: Schneller noch als die Sozialisten 1981, schneller noch als die Liberalen 1986 ist Rocard heute seiner programmatischen Versprechen überführt.

Georg Blume, Paris

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