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Überfordertes Opfer

Fließband spült Figuren und Motive herein: Bernard-Marie Koltès „Roberbot Zucco“ im Malersaal

Dass nach jedem Mord brausende Wellen über Täter und Publikum zusammenschlagen, könnte aufgestülpt wirken. Doch nicht bei dem Sog, den Jan Bosses Inszenierung von Roberto Zucco im Malersaal des Schauspielhauses entwickelt. Hier wartet man geradezu auf eine Woge, die alles hinwegsspült. Gleichzeitig ist sie auch der Rausch: in den Ohren, im Kopf des mehrfachen Mörders.

Bernard-Marie Koltès‘ letztes Stück von 1989 basiert auf wahren Begebenheiten: Ein Mittzwanziger bringt seinen Vater, seine Mutter, einen Polizisten und ein Kind um – und schließlich sich selbst. Alles scheinbar ohne Grund. „Aus Lust am Bösen“, lässt Koltès einen Gefängniswärter mutmaßen. Doch während der Wärter noch seinen Gedanken nachhängt, spaziert Roberto Zucco über die Knastdächer ins Freie. Die Aufseher sind übermüdet. Ein Ausbruch ist undenkbar, darf nicht sein. Und passiert doch.

Bosses Inszenierung öffnet Deutungsspielraum zwischen den Polen „auf die schiefe Bahn geraten“ und einem „Mich-kann-nichts-aus-den-Gleisen-werfen“. Die kommen sich auf der Bühne (Stéphane Laimé) nämlich unheilvoll nahe: Ein Fließband, das die Figuren von Szene zu Szene transportiert, läuft oder steht ohne ihr Zutun. Die Tapetenwand zeigt einen Blätterwald, verwüstet wie nach einem Orkan. In dieser Welt kann einen die Lust zum Bösen schon überfallen. So ist Zucco in dieser Inszenierung mehr Opfer als Täter, bei dem sich ein Mord „ergibt“. Felix Klare als Zucco hebt die Distanz zum Mörder auf. Er zeigt einen verängstigt-aggressiven und überforderten Jungen, der als Projektionsfläche für alle herhalten muss: Zwar will die Mutter (Sabine Orléans) von Robertos Abgründen nichts gewusst haben, präsentiert sich jedoch als Übermutter-Figur. Auch das Mädchen (Maja Schöne) verschüchtert ihn mit ihrem „Unschuldsgeschenk“.

Die Parallelhandlungen in der Familie des Mädchens sowie im Bordell zeigen psychotische Gestalten: Ein krankhaftes Hüsteln des Bruders (Bjarne Mädel) begleitet jede seiner inzestuösen Handlungen, während die Schwester (Myriam Schröder) manisch um die Wahrung längst abhanden gekommener Unberührtheit kämpft. Und wenn es am Schluss Zucco ist, der mit den Worten „Ich bin ein Mörder“ auf dem Fließband von der Bühne rollt, weiß man nicht, wen das Band als nächstes hereintragen wird. Liv Heidbüchel

Nächste Vorstellungen: 3. + 4. Juni, 20 Uhr, Malersaal

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