■ Überflüssig, aber nützlich: Unpatentierbare Chindogus machen die Welt schöner: Nie wieder nasse Bücher
Seit der Entdeckung der Quantendynamik sind sich Forscher darüber einig, daß die Wirklichkeit merkwürdiger ist als jede Erfindung. Eine Disziplin namens Chindogu könnte das ändern.
Die aus Japan stammende Tüftlerbewegung erinnert in ihrer rasanten Verbreitung an die Lomografische Gesellschaft, deren fixe Idee, Fotos aus der Hüfte zu schießen, in Zentraleuropa bereits diverse Anhänger gefunden hat. Chindoguisten folgen einer komplexeren Philosophie. Sie baut unter anderem auf 10 Gebote auf, deren eiserne Nummer 1 ist: Ein Chindogu kann man niemals wirklich gebrauchen. Dennoch sind die per Vorstandsverordnung nicht patentierbaren Entdeckungen der weit über zehntausend Mitglieder so frappierend, daß es Novizen schon nach kurzer Zeit schwerfällt, den Denkfehler ihrer eigentlich hochpraktischen Chindogus zu ergründen.
Die Produktpalette reicht von Schlappen, deren seitliche Sicheln das Rasenmähen zum Spaziergang machen, über eine aufklappbare Geisha-Gesichtsschnellschminkplatte im Aktentaschendesign bis hin zur Lesehilfe für Geschäftsleute, die trockenen Buches einen Fluß durchqueren wollen. Warum man beim Flußdurchschreiten lesen wollen sollte, erklärt Kenji Kawakami, Vorsitzender der Tokioter Internationalen Chindogu- Akademie (http://www.chindogu. com) so: „Sehr einfach – weil es ab sofort möglich ist.“
Dieselbe Linie verfolgen die mit einem hübschen Goldkettchen am Ohrring befestigten Lärmstoppstöpsel für ältere Discothekenbesucher, die um eine Kameralinse justierte Spiegelplatte, die es dem Fotografierten erlaubt, sich bis zuletzt korrekt in Szene zu setzen, und die sohlenlosen Schuhe für Berufstätige, die den Bodenkontakt diskret halten möchten.
Alle Chindogus müssen zumindest im Prinzip funktionieren (Regel 2) und für den Alltagsgebrauch, aber mit anarchischem Gemüt konzipiert sein (Regeln 3 und 4): Damit erfüllen sie das kindliche Bedürfnis aller Menschen, die Welt um jeden Preis bequemer zu machen. Daß es dabei jedoch unvorhersehbare kulturelle Barrieren gibt, mußten die Chindoguisten kurz nach Erscheinen ihrer fünften Neuheitensammlung in Japan feststellen: Sowohl die Armatur für tränenloses Zwiebelschneiden als auch die sparsame Seifenrestpresse gibt es schon seit Jahrzehnten in deutschen und US-amerikanischen Versandkatalogen für „moderne“ Hausfrauen zu kaufen. Die beiden Apparaturen verloren damit sofort ihren Status als Chindogu. Der Leiter der US-amerikanischen Akademiezweigstelle im kalifornischen Tarzana, Hugh Fearnley-Whittingstall, trägt solche Vorfälle mit Gelassenheit: „Genie kann man am besten als unendliche Leidensfähigkeit beschreiben. Daß einige unserer genialen Chindogus mehr Schwierigkeiten als Nutzen verursachen, macht sie letztlich doch nur noch brillanter.“ Mark Benecke
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