: Überall gehen, sitzen, schlafen Menschen
Der 5.000-Seelen-Ort Nousud beherbergt heute 100.000 Flüchtlinge aus dem Irak/ Noch immer suchen Kurden im Iran Zuflucht/ Strikte Kontrollen und Durchsuchungen nach Waffen an der Grenze/ Rückkehr ist kein Thema ■ Aus Nousud Ali Sadrzadeh
Nousud ist ein Städtchen an der Grenze zum Irak. Diese iranische Kurdenstadt hat in den letzten zehn Jahren viele Turbulenzen erlebt. Von hier aus hatte die iranische Armee mehr als einmal versucht, einen Angriff gegen den Irak zu starten. In Nousud wurde während des achtjährigen irakisch-iranischen Krieges die Unterstützung für die Kurden im Nachbarland organisiert. So wandelte sich der Ort im Laufe der Jahre in ein Militärgebiet.
Nousud, das einst 5.000 Einwohner hatte, beherbergt dieser Tage bis zu 100.000 Flüchtlinge. Etwa dreißig Kilometer westlich der Stadt erlebt der Reisende, daß er sich einer sensiblen Region nähert. Militärposten durchsuchen jedes Auto und befragen jeden, der als Fremder ausgemacht wird. Doch hat man die Kontrollen einmal hinter sich, dann gelangt man in eine chaotische Situation. Eine gespenstische, traurige und ziellose Menschenmenge zieht durch die Straßen von Nousud. Nicht nur Moscheen, Schulen und sonstige öffentliche Gebäude sind voller Flüchtlinge, sogar manche Geschäfte der Stadt haben Menschen Zuflucht gewährt. In fast jedem Haus kampieren inzwischen bis zu zwanzig kurdische Flüchtlinge.
Überall stehen, sitzen, schlafen oder gehen Menschen, gezeichnet von den Strapazen der letzten Tage und Wochen. In diesem Gedränge sieht man oft drei-, vierjährige Kinder, die schweigend und ohne Begleitung irgendwo hocken oder umherlaufen. Sie weinen nicht mehr, haben keine Tränen mehr. Erwachsene gehen an ihnen vorbei, niemand stellt ihnen eine Frage, sie selbst sprechen niemanden an, es sei denn, es kommt ein LKW des iranischen Roten Halbmonds mit Lebensmitteln vorbei. Doch die Kleinen haben kaum eine Chance, ein Stück Brot zu ergattern, auch wenn sie sich noch so sehr bemühen. Es herrscht das Gesetz des Stärkeren. Gelegentlich kommt ein iranischer Helfer und sammelt die Kinder, um sie in ein Lager 150 Kilometer weiter zu bringen, das eigens für sie eingerichtet wurde.
Begegnung an der Grenze zum Irak
Der Menschentreck hört außerhalb der Stadt keineswegs auf. In Taxis, Minibussen, Kleinlastern, mit Schubkarren und vor allem zu Fuß bewegen sich Menschen auf die Stadt zu. Sie sind die Glücklicheren, denn am Schlagbaum, der die ehemaligen Kriegsgegner voneinander trennt, wartet noch eine ganze Karawane, die nach Augenzeugenberichten bis zu vierzig Kilometer in den Irak hineinreicht. Die Grenze sei offiziell nicht geschlossen, die Kurden würden ins Land gelassen, so die Verlautbarungen der Teheraner Regierung. Doch die Durchsuchungen der Fahrzeuge sind langwierig und penibel. Kurden mit Waffen aus dem Irak im iranischen Kurdistan — dies wäre für die Verantwortlichen im Iran zu brisant und buchstäblich explosiv.
Es ist 10 Uhr morgens, als wir die Grenze erreichen und ein etwa 50jähriger Mann mit einem zweijährigen Kind den Schlagbaum passiert. Es ist regnerisch und kalt, es weht ein eisiger Wind. Der Mann geht langsam; ohne den Stock, auf den er sich stützt, würde er wohl zusammenbrechen. Das Kind trägt er, zusammen mit einigen Habseligkeiten, in ein Tuch gewickelt auf dem Rücken. Weder die Farbe des Tuches noch die seiner Kleidung ist auszumachen. Soll man, darf man ihn nach seinem Schicksal fragen, kann er überhaupt antworten? Ich überwinde meine Scheu, begrüße ihn. Anstelle einer Entgegnung und nach Momenten sprachlosen Aufblickens fängt er an zu weinen. Ich gebe ihm alles, was ich an Eßbarem bei mir habe. Er setzt sich auf den nassen, steinigen Boden und beginnt zu essen. Es hat aufgehört zu regnen, doch das Kind hört nicht auf zu zittern, obwohl es verhältnismäßig warm angezogen ist. Der Mann sagt, er komme aus der Stadt Hadj Omran, er sei seit acht Tagen unterwegs. Dann beginnt er erneut zu weinen. „Erst starb unterwegs meine neunjährige Tochter, sie hatte Durchfall und Fieber. Zwei Tage später stürzte meine Frau von einem Felsen, sie verblutete.“ Mehr Fragen zu stellen, verbietet der Anstand.
Es gibt unter den Flüchtlingen eine Minderheit, die weniger erschöpft und psychisch angeschlagen ist und auch keinen Hunger leidet. Das sind diejenigen, die mit dem eigenen PKW eingereist sind, Reiseproviant und Brennholz für unterwegs mitgenommen und eine Lebensperspektive bewahrt haben. „Solange Saddam Hussein an der Macht ist, gehen wir nicht zurück“, lautet die Standardantwort auf die Frage, was die Flüchtlinge von der Errichtung von geschützten Lagern im Nordirak halten. Die Lager seien für diejenigen im Iran auch zu weit weg, man habe keine Kraft mehr, jetzt noch einmal bis Zakho zu laufen, heißt es. Zakho ist jene irakische Stadt an der türkischen Grenze, wo die Alliierten derzeit die erste Zeltstadt für die Kurden aufbauen. In der Tat ist das Lager zur Entlastung der Situation an der türkisch-iranischen Grenze gedacht. Überdies lehnt der Iran die Errichtung der Lager im Nordirak ab. Dies würde zu einer De-facto-Teilung des Irak führen, so der iranische Außenminister Ali Akbar Velayati. So werden die Flüchtlinge weiter im Iran bleiben müssen — bis zu einem Machtwechsel in Bagdad.
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