Über eine Kindheit nach dem GAU: Tschernobyl, süßsauer
Am Tag nach dem Reaktorunglück ließ ihre Mutter sie in Pfützen planschen - über den nahen GAU wusste sie nichts. Ein Bericht über eine schöne Kindheit in einer weißrussischen Stadt.
Heute vor 24 Jahren habe ich meinen ersten Frühling genossen. Ich war 15 Monate alt und ging mit Mutter in meiner Heimatstadt Tschausy im Osten Weißrusslands spazieren. Die vom Südwind getriebenen Regenwolken waren vorbeigezogen. Der Himmel lockerte auf. Die Mutter ließ mich in den Pfützen planschen. Sie wusste noch nicht, dass seit diesem Tag unser Wasser und unser Boden vergiftet waren. Eine Meldung über den GAU im Atomreaktor von Tschernobyl wird es in sowjetischen Medien erst einige Tage später geben. Tschausy gehört seitdem zu den rund 5.000 radioaktiv verseuchten Orten in Weißrussland.
Wir, Kinder von Tschernobyl, waren ganz glücklich. In der Schule bekamen wir drei kostenlose Essen täglich, finanziert vom Staat und internationalen Organisationen. Zu Weihnachten gab es Pakete aus dem Westen. Meinen besten Erinnerungen an die Schulzeit habe ich Tschernobyl zu verdanken. Einen Monat im Jahr verbrachte unsere Schulklasse im Sanatorium in einem "sauberen" Ort in Weißrussland. Während dieses Urlaubs hatten wir wenig Unterricht, abends gab es Diskothek, Kino oder Konzert.
Für die meisten Kinder in meiner Schule war die Sommerreise ins Ausland der absolute Höhepunkt des Jahres. Meine Mitschüler flogen zu einer Gastfamilie nach Kanada, Italien, Belgien oder Deutschland. Zurück kamen sie mit Spielzeug und Süßigkeiten. Ich war nicht im Ausland, meine Mutter wollte das nicht. Sie hatte Angst, dass es mir in einer fremden Familie nicht gut gehen würde. Ich nahm es ihr übel. Sie sagte: "Ich kaufe dir alles selbst, und wenn du erwachsen bist, gehst du, wohin du willst."
Honig aus Opas Garten
Als hätte sie es geahnt: Heute lebe ich im Ausland. Meine Familie besuche ich in den Ferien. Auf die Rückreise nach Deutschland gibt mir meine Mutter Marmelade und Honig aus dem Bienenstock in Opas Garten mit. Sie erzählt, dass im Kindergarten, den sie leitet, nur eins von 86 Kindern völlig gesund ist. Der Rest hat schlechte Augen, Probleme mit den Nieren, der Schilddrüse oder den Knochen. Die meisten sind "allgemein kränklich" und haben schwache Abwehrkräfte.
Radiozäsium, Plutonium und Strontium kann man nicht sehen, riechen oder hören. Man kann nicht nachweisen, dass die Krankheiten der Kinder mit Tschernobyl zusammenhängen. Der Staat bezahlt für diese Kinder aber die Hälfte der täglichen Verpflegung im Kindergarten - rund 80 Cent pro Tag. Die andere Hälfte zahlen die Eltern. Sie freuen sich, dass ihre Kinder dreimal am Tag warmes Essen bekommen. Auch wenn es nicht jeden Morgen Butter zum Frühstücksbrötchen gibt. Dem Kindergarten fehlt es an Geld. Eine Erzieherin verdient im Monat umgerechnet rund 70 Euro. Der Durchschnittslohn der Weißrussen liegt bei 260 Euro im Monat. Die Lebensmittelpreise sind fast genauso hoch wie in Deutschland. Um zu überleben, pflanzen die Bewohner in Tschausy Kartoffeln, Möhren und Zwiebeln an. An die schädliche Strahlung im geernteten Gemüse denken sie nicht. Sie haben andere Probleme. Radioaktivität ist zur Normalität geworden. Die Marmelade von zu Hause schmeckt mir süßsauer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Negativity Bias im Journalismus
Ist es wirklich so schlimm?
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Künstler Mike Spike Froidl über Punk
„Das Ziellose, das ist doch Punk“