: Über die Gräben hinweg
Aids ist ein politisches Problem: New Yorks Act-Up-Bewegung ■ Von Gisela Theising und Lutz Hieber
Der 22. März 1994 war ein Dienstag. In New York City war es viel zu kalt. An diesem zweiten Frühlingstag hatte – nach Einschätzung des liberalen Kulturblatts Village Voice – Act Up seine Krise überwunden: ein paar tausend hatten sich zu einer Demonstration eingefunden, die über die Brooklyn Bridge zur City Hall in Manhattan führte. Während sich der Zug über die lange Brücke bewegte, versank die Sonne über dem East River im Abendrot. Aber romantische Stimmung blieb aus. Plakate und Handzettel, künstlerisch von Joy Episalla und Richard Deagle gestaltet, enthielten scharfe Attacken auf den republikanischen Bürgermeister Rudy Giuliani. Ein immenses Polizeiaufgebot war präsent. Giulianis Pläne zur Privatisierung von Krankenhäusern, sein restriktives Vorgehen gegen Obdachlose und seine gegen „safe-sex“-Aufklärung gerichtete Schulpolitik hatten den Protest ausgelöst.
Act Up ist die Abkürzung von „AIDS Coalition To Unleash Power“. Sie steht für eine außerparlamentarische Bewegung, die ähnlich bedeutend ist wie die Bewegung gegen den Vietnamkrieg der sechziger Jahre.
Am Anfang stand Antiseparatismus
Entstanden ist Act Up im Jahre 1986, durch die Initiative von homosexuellen Männern. „Der Grund, daß Act Up gegründet wurde, war“, so sagt Vincent Gagliostro als einer der Mitstreiter der ersten Stunde, „daß Aids durch die damalige Reagan-Regierung nicht als ein gesellschaftliches Problem anerkannt wurde. Aus ihrer Sicht handelte es sich um eine reine ,Schwulenkrankheit‘. Und darum meinten sie, sich nicht kümmern zu müssen, weil sie Schwule als nicht erwünschten Teil der Gesellschaft betrachteten.“ Doch Act Up sollte nicht lange ein exklusiver Club von weißen, männlichen Mittelklasseangehörigen bleiben. Denn bald wurden Feministinnen, die sich für Abtreibungsrechte engagiert hatten, auf die Gruppe aufmerksam. Der Grund war einfach – der gemeinsame Gegner führte sie zu Act Up: Cardinal O'Connor, Haupt der Erzdiözese New York, war und ist ein unbeugsamer Wortführer in Sachen katholisch-dogmatischer Sexualmoral. Er wettert nicht nur gegen das Recht auf Abtreibung und mobilisiert Gläubige zu Aktionen gegen Abtreibungskliniken. Er tritt ebenso entschieden gegen jegliche Empfängnisverhütungsmittel ein – und dazu zählen auch Kondome. Außerdem ist er ein starrer Verfechter der Verurteilung von Homosexualität.
Eine erste gemeinsame Aktion von Act Up und der Frauenorganisation WHAM (Women's Health Action and Mobilization) fand am 10. Dezember 1989, einem Adventssonntag, an der St. Patrick's Cathedral in der 5th Avenue statt. Die Kleinplakate, die dazu aufriefen, wurden vom Künstler Vincent Cagliostro entworfen. Allen gemeinsam war die Schlagzeile „Stoppt die Kirche“ und die Forderung „übernehmt die Selbstbestimmung eures Körpers“ in roter Balkenschrift, dazu kamen die verschiedenen Abbildungen. Zu einem Bild des Kardinals wurde dieser mit den Worten „Eine gute Moral ist gute Medizin“ zitiert, auf einem zweiten wurde ihm vorgehalten: „O'Connor will keine ,safe sex‘-Aufklärung.“ Und ein weiteres forderte „Haltet unsere Abtreibungskliniken offen“. Alle Aufrufe waren mit beiden Logos von Act Up und WHAM gekennzeichnet. Diese und weitere gemeinsame Aktionen erzeugten einen neuen Aggregatzustand für die außerparlamentarische Politik. Die Bewegungen der siebziger Jahre hatten sich dem Separatismus verschrieben: Feministinnen legten Wert auf strikt männerfreie Zirkel; homosexuelle Männer schotteten ihr Milieu ab; Ökos versuchten, sich unter ihresgleichen zu verwirklichen. Mit den späten achtziger Jahren war dann dieser Trend offenkundig an seine Grenzen gestoßen – wenigstens in den USA: wie so oft in politischen Bewegungen, bildete der gemeinsame Gegner gewissermaßen den Katalysator, an dem sich wieder – über die vormalig aufgerissenen Gräben hinweg – Zusammenarbeit einstellte.
Kardinal O'Connor war nicht der einzige Gegner. Andere spielten dieselbe Rolle einer Einigungsfunktion. So eine ganze Reihe von Wortführern der protestantischen „christlichen Rechten“ oder der konservativen Republikaner, die Aids als Mittel benutzten, um den traditionell-bürgerlichen Werten wie „Ehe“ und „Treue“ wieder Geltung zu verschaffen. Parallel dazu wurde immer deutlicher, daß Aids eine Gefahr für alle darstellt, und zwar nicht nur für Schwule, sondern ebenso für heterosexuelle Männer und Frauen und auch für Lesben. „Diese Situation war Anlaß für viele Frauen, sich Act Up anzuschließen“, meint Joy Episalla rückblickend. „Sie wollten dazu beitragen, die weitere Ausbreitung von Aids zu verhindern, und sie wollten zugleich der erneuten Einschränkung der Rechte von Frauen durch konservative Kreise entgegentreten, die die Aids-Krise zur Förderung der Familienmoral und der damit verbundenen Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen mißbrauchen.“
Act Up New York trifft sich jeden Montagabend, um 19.30 Uhr, im „Lesbian and Gay Community Services Center“ in der 13th Street. Seit Jahren finden sich dort etwa zwei- bis dreihundert Aktive ein. Davon sind etwa ein Drittel Frauen – Lesben, ebenso wie Heteros. Bis heute sind allerdings Schwarze und Latinos unterrepräsentiert. Ebenso unterrepräsentiert sind auch eigenartigerweise heterosexuelle Männer (vielleicht ruft die Mär von Aids als einer „Schwulenkrankheit“ vor allen Dingen bei ihnen tieferliegende Kontaktängste hervor, die aus jahrhundertelanger Diskriminierung von männlichen Homosexuellen gespeist sind).
Neue Protestformen und -ziele
Act Up knüpft an außerparlamentarische Bewegungen der sechziger Jahre an: „Unsere Bewegung benutzt die Protestformen der Bürgerrechtsbewegungen der Schwarzen und der Vietnamkriegsgegner, wir haben die selben Formen des zivilen Ungehorsams“ stellt Barbara Hughes fest. „Und wir führen zugleich fort, was die Frauenbewegung der 70er Jahre begonnen hat.“ Das Ziel von Act Up ist die Beendigung der Aids- Krise. Denn Aids ist erst dann kein Problem mehr, wenn es für alle kein Problem mehr ist.
Um dieses Ziel zu erreichen, setzt Act Up an verschiedenen Punkten an. Hinter jeder einzelnen Aktion steht, egal welcher konkrete Fall aufgerollt wird, die Grundüberzeugung: Aids ist ein politisches Problem. Aids als persönliches Schicksal, als Aufgabe der Krankenversorgung aufzufassen greift zu kurz. Act Up fordert Forschungspolitik im Großmaßstab, um endlich ein Heilverfahren zu entwickeln. Gleichermaßen geht es um die Überwindung der bürgerlich-restriktiven Sexualpolitik, als Voraussetzung für die Selbstbestimmung des eigenen Körpers. Dazu kommt die Auseinandersetzung mit Sexismus und Rassismus. Insofern sind es nicht allein die Protestformen der 60er Jahre, die weiterwirken – es sind zugleich auch die Einsichten in das gesellschaftliche Bedingungsgefüge.
Während des Golfkrieges 1991 nahm die Künstlergruppe Gang (die im Zusammenhang mit Act Up entstanden war) George Bush aufs Korn. Ihr Plakat war im Stil der Marlboro-Reklame gehalten. Der Präsident als Cowboy mit Lasso, versehen mit der Aufschrift: „Aids-Krise“.
Die für jede Zigarettenwerbung vorgeschriebene Gesundheitswarnung war ersetzt durch die Worte: „Warnung: Während Bush Milliarden ausgibt, um Cowboy zu spielen, haben 37 Millionen Amerikaner keine Krankenversicherung. Alle acht Minuten stirbt jemand an Aids.“
Auch die Pharmaindustrie wurde angegriffen. Weil sie zuwenig für die Entwicklung von Aids- Medikamenten tat, obwohl sie Riesensummen an Forschungsgeldern kassiert hatte. Bei einer Aktion in der New Yorker Börse 1989 entfaltet Act Up ein großes Spruchband: „Verkauft Wellcome“ – als Aufforderung, diese Aktien abzustoßen. Vor der Börse auf der Wall Street waren Demonstranten mit Plakaten, auf denen der Wellcome-Vorstandsvorsitzende als „Aids-Gewinnler“ bezeichnet wurde. Am nächsten Tag stand die Sache im Wall Street Journal. Weil der Pharmakonzern einen Sturz seiner Aktien befürchtete, senkte er die Preise für das Aids-Medikament AZT um zwanzig Prozent. Damit war ein Teilerfolg errungen: Das Medikament war billiger geworden, und damit besser verfügbar – besonders für die Ärmeren.
Mit der Integration kam die Krise
„Die politische Bedeutung von Act Up bestand zunächst darin, Aids zu einem politischen Thema gemacht zu haben, das von einer breiten Öffentlichkeit diskutiert wird. Unsere Aktionen haben das Bewußtsein der Bevölkerung geändert. Die Bilder unserer Plakate, Aufkleber, T-Shirts wurden im Fernsehen und in der Presse gezeigt. Und wenn sich in irgendeiner Sendung ein Fernsehjournalist oder ein Showmaster zufällig in einem Satz auf ein Plakat bezog, das wir eine Woche zuvor in den Straßen geklebt hatten, dann wußten wir: es ist bekannt – sie haben es gesehen“, reflektiert Richard Deagle rückblickend die frühen Jahre von Act Up.
Zu den hauptsächlichen politischen Gegnern gehörten Präsident Reagan und sein Nachfolger George Bush. Sie saßen an den Hebeln der Macht, und sie hätten sich für die Aids-Forschung und für das Gesundheitswesen engagieren können. Doch sie taten es nicht. Im Präsidentschaftswahlkampf 1992, als Bill Clinton gegen George Bush antrat, stolperte Bush über diese Haltung und verlor. „Bush“, so charakterisiert Gagliostro dessen öffentliche Auftritte, „verhielt sich weiterhin so, als ob es sich dabei um ein vernachlässigbares Thema handeln würde. Er hatte zum Thema Aids-Krise nichts anzubieten.“ Und Barbara Hughes ergänzt: „Daß Bush sich weigerte, das Ausmaß der Krise auch nur wahrzunehmen, hat viele an den politischen Fähigkeiten dieses Mannes zweifeln lassen. Seine Sichtweise auf die Dinge bekam einen Beigeschmack von ,nicht realitätsgerecht‘.“
Bill Clinton dagegen hatte sich bereits ein halbes Jahr vor der Wahl mit Leuten von Act Up in New York getroffen. Im Wahlkampf hat er die Aids-Thematik und die Probleme von Homosexuellen aufgegriffen. Das brachte ihm Sympathien ein. Und weil ihn zu unterstützen bedeutete, Bush endlich loszuwerden, arbeiteten viele Act-Up-Anhänger in seiner Wahlkampagne mit. Ihre Energien gingen damit natürlich der außerparlamentarischen Bewegung verloren. Clinton gewann die Wahl. Aber der Schwung von Act Up erlahmte.
Leider zeigte sich, als Clinton im Amt war, daß er die Hoffnungen, die er geweckt hatte, nicht erfüllte. „Er hat zwar“, resümiert Deagle, „anfänglich versucht, den Interessen von Homosexuellen entgegenzukommen, indem er ihnen einen gleichberechtigten Zugang zum Militär verschaffen wollte. Dieser Versuch ist aber gescheitert. Denn die Militärdebatte war aus unserer Sicht der falsche Ausgangspunkt. Die Zugangsberechtigung zum Militär hat eine große Rolle gespielt, als es um die Gleichberechtigung der Schwarzen ging. Für die heutige Homosexuellenbewegung ist sie jedoch von untergeordneter Bedeutung, weil die meisten dem Militär kritisch gegenüberstehen.“
Ein paar Monate später schließlich, im Zusammenhang mit der Whitewater-Affäre, begab sich Clinton in den Rückzug. Immerhin blieb, als Fortschritt gegenüber dem rohen Manchester-Kapitalismus der Reagan-Bush-Ära, das Konzept der Gesundheitsreform erhalten. Aber aus Angst vor weiterem Gesichtsverlust in der Öffentlichkeit hat Clinton sein Engagement für die Aids-Problematik, für die Selbstbestimmungsrechte von Frauen und von Homosexuellen eingeschränkt. „Im Moment ist es für uns schwer“, lautet die nüchterne Bestandsaufnahme von Barbara Hughes, „dieses Engagement neu zu beleben.“ Act Up hat mittlerweile begonnen, daraus Konsequenzen zu ziehen. Statt auf Rettung aus dem Weißen Haus zu hoffen, werden wieder eigene Forderungen und Ansprüche diskutiert und in politische Aktionen umgesetzt. Interessant dabei ist die Bedeutung von Künstlerinnen und Künstlern: sowohl heute als auch in den Anfangsjahren von Act Up waren sie stets die treibende Kraft der Bewegung. Sie haben zu Demonstrationen aufgerufen, sie haben Plakate, T-Shirts, Aufkleber, Handzettel oder Zeitungsannoncen gestaltet. Sie verbinden ihre ästhetischen Fähigkeiten mit ihren Kenntnissen, die sie in der
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tagtäglichen Reklamewelt erworben haben. Sie bemühen sich, Ärger und Kritik, Vorstellungen und Ziele so wirksam wie irgend möglich zu formulieren. Die Wirksamkeit von Act Up, ihre Präsenz in den öffentlichen Auseinandersetzungen, ist zum Großteil ein Verdienst ihres Engagements. Loring McAlpin, Mitglied der Künstlergruppe „Gran Fury“ drückt das so aus: „Wir versuchen ebenso hart, um Aufmerksamkeit zu kämpfen, wie Coca-Cola um Aufmerksamkeit kämpft.“ Wie in den 60er Jahren bleibt Kunst nicht mehr im Elfenbeinturm. Sie wird eine politische Kraft. Der Graffiti-Künstler Keith Haring hat für Act Up gearbeitet. Zoe Leonhard, eine der Stars der „Documenta IX“ ist seit Jahren Act-Up-Aktivistin. Wie sie arbeiten auch Felix Gonzalez-Torres und viele andere in Künstlergruppen. Dort entsteht großartige politische Kunst. Vincent Gagliostro berichtet dagegen empört von der Aufforderung eines bekannten New Yorker Galeristen, eines seiner Plakate in Öl zu malen. Er hat dieses Ansinnen natürlich zurückgewiesen, denn „eine solche Kunst, die durch die gleichen kapitalistischen Strukturen geprägt ist wie die Geschäfte der Pharmaindustrie, ist für die Lösung der heutigen gesellschaftlichen Probleme hinderlich.“
Die Hoffnung auf eine Zeit ohne Act Up
Act Up nahm seinen Ausgang von New York City. Danach haben sich auch in anderen Städten der USA Gruppen gebildet. In der Bundesrepublik gibt es mehrere aktive Ableger, mit Frankfurt als Zentrum. Nach Selbsteinschätzung der New Yorker ist ein wesentlicher Erfolg der Aufklärungsarbeit von Act Up in den USA, daß mittlerweile Aids als eine Krankheit begriffen wird, die jeden und jede betreffen kann – nicht nur „Außenseiter“ mit „abweichendem Verhalten“. Ein weiterer Erfolg ist sicher, daß die politische Apathie vieler Menschen in politische Aktivität umgeschlagen ist: dadurch hat die Bewegung Act Up sozusagen die Tür dafür geöffnet, daß kritische Fragen gestellt werden, daß Regierung und Wirtschaft hinterfragt werden. ACT-UP- Leute haben sich so weit durchgesetzt, daß sie heute auch in der Gesundheits- und der Forschungspolitik wahrgenommen werden.Dabei hat Act Up – als basisdemokratische Bewegung – keinesfalls den Charakter einer einheitlichen Bewegung. Das ist, wie Cagliostro meint, durchaus von Vorteil: „Das Problem einheitlicher Bewegungen besteht darin, daß sie schließlich beginnen, um ihr eigenes Überleben zu kämpfen. Unser Ziel ist aber die Beendigung der Aids- Krise. Dadurch würde die Existenz von Act Up überflüssig. Dieses Ziel ist erreichbar – wenn es auch bis dahin noch ein weiter Weg ist.“
Im Deutschen Hygienemuseum Dresden findet bis zum 6. Januar 1995 die retrospektive Ausstellung SILENCE = DEATH statt. Der Titel („Schweigen = Tod“) leitet sich vom ersten Plakat aus dem Jahre 1986 ab, dessen aufsehenerregende Präsenz den Anstoß für die Gründung von Act Up gegeben hatte.
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