Über den Umgang mit Traurigkeit: Der Blick zum Mond
Was tun, wenn die Traurigkeit einen überfällt? Der Ethikrat ist selbst trostbedürftig – und deshalb nur begrenzt hilfreich.
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V or Kurzem überfiel mich die Traurigkeit wie ein hinterhältiger Affe, krallte sich in meinen Rücken und blieb eine Weile. Ich radelte mit ihr durch den Regen in die Bücherhalle, um ein paar Bilderbücher für die Kinder und für mich einen nicht unheimlichen Krimi auszuleihen, als ich auf der Rolltreppe den Ethikrat sah.
Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Fragen praktischer Ethik geben. Der Rat trug gelbe Regenmäntel, auf denen Tropfen herabrannen, und ich dachte, dass sie Tränen ähnelten und dass der letzte, den ich hatte weinen sehen, ein Bauer gewesen war, dessen Pferd gestorben war. Es war 25 Jahre alt und krank und zum Sterben war es einen Hang hinaufgestiegen, obwohl ihm zum Laufen eigentlich die Kraft fehlte.
Der Ethikrat schwebte die Rolltreppe empor und ich fuhr mit etwas Abstand hinterher, weil die traurigen Tage Gespräche eher erschweren. In der Bücherhalle hatten andere vor mir die nicht unheimlichen Krimis ausgeliehen, deswegen ging ich zu der Bilderbuch-Ecke, wo der Ethikrat auf den Kinderstühlen Platz genommen hatte. „Guten Tag“, sagte ich. „Suchen Sie für sich oder für andere?“ „Für uns“, sagte der Ratsvorsitzende, „gute Kinderbücher sind ein zeitloser Gewinn.“ „Ja“, sagte ich, „aber sie sind rar.“ Die beiden Ratsmitglieder, die in der Regel schweigen, nickten mir zu und entfernten sich in Richtung der Abteilung „Zaubertricks und Ulk“. Der Vorsitzende sah ihnen missbilligend hinterher. „Haben Sie eine Frage an uns?“, wandte er sich an mich.
„Eigentlich nicht“, sagte ich, denn die Traurigkeit ist nicht förderlich, was das Vertrauen in Antworten anbelangt, und wenn man ehrlich war, hatte der Ethikrat kaum dazu beigetragen, es zu stärken. „Es wäre schade, wenn unser Austausch unergiebig für Sie bliebe“, sagte der Ratsvorsitzende und legte ein Bilderbuch beiseite, aus dem es muhte. „Sicherlich nicht“, sagte ich hastig, „mir scheint nur, dass es für meine Frage keine Antwort gibt, das heißt, es ist keine echte Frage.“
Die Vorteile des ungenauen Blicks
Aber dann haspelte ich weiter, denn der Ratsvorsitzende wirkte ungewohnt milde. „Natürlich ist das Traurige immer da, der Tod, die Ohnmacht“, sagte ich, „wie der Mond, den man tagsüber nicht sieht, oder nur, wenn man genau guckt. Und das Nicht-genau-Gucken ist ja auch sinnvoll, denn die Traurigkeit führt ja nicht zu großen Taten, ich zumindest mache mich dann nicht auf, um die Welt zu retten.“ Es muhte erneut und ich brach ab.
Es ist kein Vergnügen, sein löchriges Seelenleben aufzublättern, der Rahmen sollte ein Minimum an Würde haben. „Pardon“, sagte der Vorsitzende. „Meine 95-jährige, gelähmte Tante sagt sich die Gründe auf, weshalb sie nicht traurig sein muss“, fuhr ich fort. „Und vielleicht ist es das Verfahren, das man auch bei dieser vagen Traurigkeit anwenden sollte. Oder zumindest ein gewisses Maß an Widerstand, wie auch immer“. Ich brach ab. Der Ethikrat verstand sich nicht als Seelentröster.
Nun“, sagte der Ratsvorsitzende, „natürlich gab es einen Strang in der Theologiegeschichte, in der die Versenkung in die Melancholie kritisch gesehen wurde. Dennoch bleibt ein Moment, das dem eigenen Zugriff entzogen ist.“ In diesem Moment kam ein bebrilltes Kind, das dem Vorsitzenden hurtig das Bilderbuch aus der Hand riss. „Wertes Kind“, sagte der Vorsitzende, „sicherlich ist dir nicht entgangen, dass ich es zuerst hatte.“ „Mir egal“, sagte das Kind und schlenderte aufreizend langsam davon.
„Möchten Sie hinterhergehen?“, fragte ich. Der Vorsitzende schüttelte den Kopf. „Manchmal ist man es leid“, sagte ich. „Ja“, sagte der Vorsitzende, „das ist man.“ Und dann schwiegen wir jenes Doppelschweigen, das folgt, wenn es keine Antwort gibt und das eigene Seelenleben unangenehm ausgebreitet herumliegt. Aber in diesem Moment kehrten die beiden anderen Ratsmitglieder zurück und trugen mit sich ein Buch, aus dem es laut muhte.
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