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■ Pampuchs TagebuchÜber das Gehen ins Nichts

Jetzt aber schnell. In drei Tagen verreise ich mal wieder. Beruflich natürlich. Wir Freien müssen uns ja nach der Decke strecken. Die Decke liegt in diesem Fall in der Karibik, was immerhin eine warme Decke ist, und da streckt man sich doch ganz gerne. Doch so viel ist noch zu tun. Diesmal will ich nämlich für meine Aufgaben – es geht um einen Film über die Dominikanische Republik – erstmals meinen Laptop mit unter die Pahalmen am Strahand mitnehmen. Kommunikation ist schließlich alles. Und ich will neue, aufregende Dinge tun, das lineare und kausale Denken hinter mir lassen, und – warum nicht? – Märchen erzählen, die es noch nie gab.

Damit bin ich schon fast ein „New Edger“. Den Begriff (und die obigen Bestimmungsfaktoren) entnehme ich Gerd Gerkens und Michael Konitzers Buch „Trends 2015“ (ist von 1995, aber ich habe es erst jetzt in die Finger gekriegt). Die neue, moderne Welt funktioniert, wie ich da erfahre, schon geraume Zeit nach dem Motto des New Edge. War nämlich in den 80ern mit ihrem komischen New Age die Meditation der Schlüssel zur Erregung des Gehirns, so ist es heute der Informationsstreß – und das Leben am „Edge“. Will sagen, daß auf dem Festland das Leben zwar sicher und gleichmäßig ist, aber auch langweilig. An der Klippe jedoch – zum Beispiel am Meer – ist es reizvoller, wenn auch risikoreicher. Gerke und Konitzer zitieren den chilenischen Biologen und Nobelpreisträger Humberto Maturana, der den Prozeß der Entstehung neuer Trends mit folgendem Bild beschreibt: Ein Mann steht am Rand einer Klippe und wagt den Schritt über die Klippe. Aber jedesmal, wenn er den Fuß ins Nichts setzt, wächst die Klippe unter seinem Fuß nach, und er hat wieder festen Boden unter den Füßen.

Durch das Gehen ins Nichts entsteht das, worauf man gehen kann. Man muß nur dran glauben. So entsteht Evolution. Und gerade so treiben es die New Edger. Leider habe ich das Buch noch nicht weitergelesen (wegen der neuen Dinge und weil ich ja nicht so linear sein will). Auf jeden Fall fahre ich mit einem Laptop und einem jungen Edger- Team auf eine Insel mit allerlei Klippen, und das einfach so, hui, in ein aufregendes Projekt.

Was mir möglicherweise fehlt, ist die Unbefangenheit der wahren New Edger. Das sind ja normalerweise Zwanzig- bis Dreißigjährige, die beim Beginn des New Age noch in die Windeln gemacht haben, statt zu meditieren. Außerdem haben sie, wie das Max-Planck-Institut für Neuroforschung festgestellt hat, ein sogenanntes „Erregungsgehirn der Jugend“, das durch Informationsstreß nicht etwa gestört, sondern im Gegenteil aktiviert und sensibilisiert wird.

Nicht, daß mein ältliches Erregungsgehirn nun mit good old New-Age-Meditation zugekleistert wäre. Als Journalist verfüge ich durchaus über den von Gerke und Konitzer für Edger geforderten „Multi Mind“. Aber ich muß natürlich gestehen, daß ich die Klaviatur der Verarbeitung massenhafter elektronischer Informationsflut nicht so gut beherrsche wie die neuen Cyberfreaks.

Trost ist mir, daß die Einheimischen von Hispaniola auch noch nicht ganz auf der Höhe dieses speziellen Edges sind. Als alter Südamerikafreund weiß ich aber, daß die fröhlichen Latinos allesamt schon seit langem Edgerqualitäten in sich tragen, für die es hier erst eine neue Generation gebraucht hat. Das Leben an der Klippe ist für die nichts Neues. Sorgen macht mir deshalb nur, wo ich auf der Insel immer den passenden Internetanschluß auftreibe. Aber wenn's hart auf hart kommt, kann ich ja hinter die nächste Klippe gucken. Thomas Pampuch

ThoPampuch@aol.com

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