Über das Älterwerden: Einfach mal was Neues wagen
Party, Reisen, Arbeit – warum nicht so weitermachen wie bisher im Leben? Über das melancholische Hängen am vermeintlich Bewährten.
I rgendwie sind wir alle ein bisschen eingerostet in der Hüfte, oder? Vielleicht bin es auch nur ich. Aber mit glückseligen Schauern erinnere ich mich zuletzt immer öfter an die Zeit, als Hula-Hoop und Limbo tanzen meine Hobbys waren. Eine archaische Zeit, als man noch Hobbys hatte, komisches Wort, klingt heute genau so verstaubt, wie ein alter Hubba Bubba schmeckt. Heute steht man bestenfalls bei der Arbeit am – im Homeoffice notdürftig selbst zusammengeklotzten – Stehpult und schiebt die Hüfte ab und zu von einer Seite zur anderen, um die Knie zu entlasten. Totale Stagnation.
Oder auch Vorhölle, ebenfalls Limbo genannt, was seltsam ist, denn wer kommt auf die Idee, einen sexy Tanz mit irgendeiner Form von Hölle in Verbindung zu bringen? Vielleicht die katholische Kirche, die das eine mit dem anderen bestrafen will, aber wen interessiert noch, was dieser Verein von Kinderschändern zu sagen hat?
In der Schwebe sein – eine andere Übersetzung für Limbo – trifft es dann vielleicht eher. Aus den geschmeidigen Frühzwanzigern sind ich und mein Umfeld hineingerostet in einen Schwebezustand, fast so, als hätten wir am tiefsten Punkt unter der Limbostange einen Hexenschuss bekommen. Rien ne vas plus, nichts geht mehr.
So fühlt es sich wenigstens an, einerseits natürlich wegen Corona. Liebste Freunde im Ausland besuchen? Nö. Die mühsam ergatterten Nick-Cave-Tickets? Storniert. Die Pandemie hat uns in diesem Schwebezustand immerhin alle gleich gemacht, mehr oder weniger, und irgendwann ist es vorbei, das ist klar. Aber in meiner – weiblichen – Freundeskohorte herrscht noch ein anderer Schwebezustand: Wir sind alle um die 40, und Stand jetzt hat kaum eine von uns ein Kind.
Die Zeit rast voran und steht doch still. Entweder, weil dazugehörige Partner sich nicht bereit fühlen (übrigens ganz unabhängig von ihrem Alter) und weil einem das Modell Alleinerziehend dann doch ein bisschen gewagt vorkommt. Oder, oder, oder. Gründe gibt es viele, medizinische, politische, private. Solche, die man selbst beeinflussen kann, und solche, die das Leben einem aufzwingt.
Männer mit Lupe
Angst, das Leben zu verpassen, die haben nicht nur Männer. Die geraten nur bei ihrer Lebensplanung nicht in den Vorhöllen-Tanz, den ich die vergangenen Jahre geschwoft bin. Ihnen stellt sich nie die Frage: Mach ich nicht vielleicht doch noch ein Jahr weiter mit dem eigentlich sehr schönen Leben, das ich habe, oder ändere ich wirklich jetzt schon alles?
Klar, auch Männer mit Kind können nicht mehr einfach jedes Wochenende durchtanzen oder alleine durch Alaska wandern. Aber sie können noch Kinder zeugen, wenn sie die Fotos aus Alaska nur noch mit der Lupe angucken können. Wobei ich und meine Freundinnen uns natürlich die Frage stellen könnten, warum wir dann doch so melancholisch an etwas hängen, was wir quasi seit 20 Jahren tun – viel Party, viel Arbeit, viel Reisen, Repeat – statt sich einfach in was Neues zu stürzen.
Spaß machen wollten auch die 53 Schauspieler, die mit ihren #allesdichtmachen-Videos „ironisch“ die Coronapolitik sowie die in ihren Augen panikverbreitende Berichterstattung darüber kritisierten. Haha – die Lacher waren nicht auf ihrer Seite. Im Gegenteil, die halbe Republik war – zu Recht – genervt.
Liefers ganz meschugge
Alles wurde dazu schon gesagt, etwas hat mich dann aber doch überrascht: Jan Josef Liefers, einer der führenden Köpfe hinter der Aktion und nach eigenen Aussagen durch die ständige Coronaberichterstattung schon ganz meschugge geworden, hat sich nicht nur zum Streit darüber mit Jens Spahn getroffen, sondern sich auch bereiterklärt, an der von der Essener Oberärztin Carola Holzner initiierten Gegenaktion teilzunehmen und mal eine Schicht im Krankenhaus mitzumachen. Das finde ich wieder cool.
Viele werden jetzt sagen: Pah, bloße Wiederanbiederung ans Publikum! Mag sein. Trotzdem ist es besser, man setzt sich aus Opportunismus mit der anderen Seite auseinander, als aus lauter reinem Bewusstsein immer schön in der eigenen Blase zu bleiben. Da ist mir ein Liefers lieber, der zwar im Gespräch mit Spahn noch immer glaubt, dass bestimmte Wissenschaftler nicht gehört werden – aber wenigstens bereit ist, sich die Realität in den Notaufnahmen und auf den Intensivstationen mal anzuschauen.
Ab und zu was Neues denken ist immer gut. Schade, dass die französische Justiz das nicht gewagt hat. Sie hat eine strafrechtliche Verantwortung Kobili Traorés an dem brutalen Mord an seiner jüdischen Nachbarin Sarah Halimi ausgeschlossen. Grund: durch Marihuanakonsum unzurechnungsfähig. Klar: Dass einer durchs Kiffen zum wüsten Gewalttäter wird, ist allemal wahrscheinlicher, als dass er Antisemit ist. Ein System, das so urteilt, ist natürlich selbst strukturell antisemitisch, aber bevor das mal überdacht wird, werden wir noch eine ganze Weile in der Vorhölle der Leugnung tanzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Frauen in der ukrainischen Armee
„An der Front sind wir alle gleich“