Über 300 Flüchtlinge ertrunken: Die Tragödie vor Tripolis
Starke Winde, hoher Seegang: 300 Afrikaner ertrinken auf dem Weg nach Italien. Ist die Flüchtlingspolitik der EU gescheitert?
ROM taz Mindestens 300 Flüchtlinge sind am Montag nach dem Kentern ihrer Boote vor der libyschen Küste ertrunken. Womöglich aber sind bis zu 600 Todesopfer zu beklagen. Unklar war am Dienstag noch der genaue Hergang der Tragödie, da libysche Behörden widersprüchliche Informationen herausgaben.
Die Toten: Seit 1988 sind an den EU-Außengrenzen nach Angaben des Europäischen Flüchtlingsrats 13.444 Menschen ums Leben gekommen. Dabei ist die Zahl der bei der Flucht gestorbenen Flüchtlinge, die von Afrika nach Europa wollen, in den vergangenen drei Jahren zurückgegangen. 2006 waren es noch 2.088, 2007 waren es 1.942 und 2008 noch 1.502. Der Europäische Flüchtlingsrat listet dabei nur die registrierten Toten auf. Wie viele Flüchtlinge im Mittelmeer tatsächlich ertrunken sind, dazu gibt es keine Zahlen.
Die Tatorte: Kanarische Inseln, Andalusien, Sardinien, die Straße von Sizilien sowie das Ägäische Meer. Die meisten Flüchtlinge starben vor den Kanarischen Inseln. In den vergangenen drei Jahren waren es 1.916. Vor Sizilien kamen in diesem Zeitraum 1.500 Flüchtlinge ums Leben. Allerdings starben im im letzten Jahr 642 Flüchtlinge vor Sizilien, vor den Kanaren waren es vergangenes Jahr 136.
Gesichert ist, dass von dem Ort Said Bilal Janzur unweit von Tripolis mehrere völlig überladene Boote Richtung Italien in See stachen. In ersten Meldungen hieß es, drei Boote mit insgesamt 257 Personen an Bord seien dann unweit der Küste gekentert. Später dagegen war nur noch die Rede von einem Boot, das über 250 Personen an Bord gehabt habe. Der Untergang sei durch starken Wind und hohen Seegang verursacht worden. Libysche Schiffe bargen 21 Leichen und retteten etwa 20 Menschen. Zudem hieß es aus Tripolis, ein weiteres Boot mit etwa 350 Personen werde auch vermisst. Der Großteil der gekenterten Bootsflüchtlinge soll aus Ägypten stammen.
Ein weiteres Schiff wurde dagegen, ebenfalls vor der libyschen Küste, von dem italienischen Schlepper "Asso 22" gerettet. In der Nacht von Samstag auf Sonntag war das Holzboot, auf dem sich etwa 350 Menschen befanden, in Seenot geraten. Der "Asso 22" gelang es am Sonntag schließlich, den Kahn in den Hafen von Tripolis zu schleppen.
Drei weiteren Schiffen gelang zudem am Montag die Überfahrt nach Italien. 222 Bootsflüchtlinge trafen auf der Insel Lampedusa ein, während zwei weitere Boote mit insgesamt 400 Personen die sizilianische Küste erreichten. Nachdem schon das Jahr 2008 mit insgesamt über 30.000 Flüchtlingen, die auf dem Weg übers Mittelmeer nach Italien kamen, alle Vorjahre übertroffen hatte, zeigt sich damit auch in den ersten Monaten des Jahres 2009, dass der Flüchtlingsstrom ungebrochen ist.
Kurz vor Bekanntwerden der Tragödie im Mittelmeer erklärte Italiens Innenminister Roberto Maroni, mit den Überfahrten von Libyen aus werde "ab Mitte Mai endgültig Schluss sein". Im vergangenen Jahr hatten Italien und Libyen ein umfassendes Freundschafts- und Kooperationsabkommen geschlossen. Dieses Abkommen werde nun, so Maroni, in die operative Phase treten. So ist die gemeinsame Überwachung der libyschen Küste mit sechs von Italien gestellten Patrouillenschiffen vorgesehen.
Ob Maronis Prognose stimmt, darf jedoch in Zweifel gezogen werden. Schon im Jahr 2003 spendierte Italien Libyen 20 Millionen Euro, die in Jeeps, Boote, Lager, aber auch in Leichensäcke investiert wurden, um die Abwehr der Flüchtlinge aufs afrikanische Festland zu verlagern. Seitdem ist Libyen aktiv: Mehr als 20 Lager, in denen tausende Personen teils über Jahre bis zu ihrer Abschiebung in ihre Heimatländer festgehalten werden, existieren in Libyen.
Erfolglos war Innenminister Maroni auch im Dezember 2008, als er verkündet hatte, von Lampedusa würden Flüchtlinge nicht mehr aufs italienische Festland gebracht, sondern direkt in ihre Heimat zurückgeschafft. Das Gros der über die Jahreswende dort eingetroffenen Flüchtlinge waren Tunesier. Tunesien aber erklärte sich bloß bereit, nach genauer Einzelfallprüfung pro Tag maximal sieben Flüchtlinge zurückzunehmen. Deshalb ist das Lager in Lampedusa völlig überfüllt, erst recht, nachdem bei einer Häftlingsrevolte die Hälfte der Kapazitäten durch einen Brand vernichtet wurde. Italiens Regierung reagierte jetzt mit der Weisung, ankommende Flüchtlingsboote nach Sizilien umzudirigieren - und von dort aus die Flüchtlinge in ein Abschiebelager im süditalienischen Kalabrien zu bringen.
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