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Über 17.000 erfasste Missbrauchsfälle

Zahlen der Polizei zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder sinken nur leicht. Internet spielt für Täter eine immer größere Rolle. Beauftragte fordert neue Schutzkonzepte

Zehntausende erschreckende Schicksale: Der neue BKA-Bericht, der am Donnerstag vorgestellt wurde Foto: Fo­to:­ Stefan Boness

Von Marc Tawadrous

Die deutschen Behörden haben 2024 etwas weniger Fälle sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen registriert als im Vorjahr. Sie zählten 16.354 Taten gegen Kinder und 1.191 gegen Jugendliche, wie aus einer Statistik des Bundeskriminalamts (BKA) hervorgeht. Beide Zahlen liegen aber über dem Fünf-Jahres-Durchschnitt.

Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) sagte bei der Vorstellung des Berichts am Donnerstag: „Wir sind auf einem nach wie vor sehr hohen Niveau, zu hoch.“ Bundesjustizministerin Stefanie Hubig sagte: „Jeder einzelne Fall steht für entsetzliches Leid, eine zerstörte Kindheit und oft große Beeinträchtigungen während des gesamten Lebens.“

Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamts, verwies auf das wohl große Dunkelfeld von Fällen, die nicht gemeldet werden. Viele dieser Fälle werden auch deshalb übersehen, weil sie in einem eigentlich sicheren Rahmen geschehen. So stehen die Täter in über 50 Prozent aller Fälle in einer persönlichen, teils familiären Beziehung zu dem Opfer.

Die Zahl der Fälle von Herstellung, Verbreitung, Erwerb und Besitzes von sogenannten kinderpornografischen Inhalten sank zum ersten Mal seit 5 Jahren. Das BKA registrierte hier 42.854 Fälle, was einem Rückgang von 5,2 Prozent entspricht. Bei sogenannten jugendpornografischen Inhalten stieg die Zahl indes um über 8 Prozent auf 9.601.

Über die Hälfte der Tatverdächtigen ist unter 20 Jahre alt, darunter besonders viele zwischen 14 und 17 Jahren. Münch betonte, Minderjährige leiteten solche Inhalte oft unbedacht weiter. Er wies außerdem auf das „Phänomen der Selbstfilmenden“ hin. Dabei handele es sich um „Minderjährige, die von sich selbst Aufnahmen erstellen und teilen, aus Neugier, Gruppendruck oder sozialer Anerkennung.“ Solche Aufnahmen seien teils Resultat weiterer Straftaten“, deshalb gelte es, solche Fälle „sehr, sehr ernst“ zu nehmen.

Ein großer Anteil aller genannten Delikte findet online statt. Neben der Sextortion, der Erpressung Jugendlicher und Kinder durch die Androhung von Weiterverbreitung sexueller Inhalte, ist besonders das Livestreaming ein wachsendes Deliktfeld. Meist im Ausland werden Kinder und Jugendliche live vor einer Kamera missbraucht, oft unter Anleitung der zahlenden Zuschauer weltweit. Viele dieser Missbrauchsfälle finden auf den Philippinen statt. Deutschland nimmt unter der Zahl der Zuschauer laut Dobrindt den zweiten Platz weltweit ein. Auch Cybergrooming wird immer relevanter. Täter bauen im Internet Kontakt zu Minderjährigen auf, um diese letztendlich zu manipulieren und sexuelle Inhalte zu erhalten.

Die unabhängige Bundesbeauftragte gegen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen, Kerstin Claus, sagte am Donnerstag: „Im digitalen Raum explodieren die Risiken für junge Menschen“, und erklärt am Beispiel des Onlinespiels „Roblox“ ihre Vorstellungen, wie Kinder besser geschützt werden können. Das Spiel hat laut Claus über 100 Millionen Spie­le­r*in­nen pro Tag, wovon 20 Prozent unter 9 und weitere 20 Prozent zwischen 9 und 12 Jahren alt sind. In diesen Räumen ist es für Täter leicht, in Kontakt zu Kindern zu kommen.

„„Jeder einzelne Fall steht für entsetzliches Leid“

Stefanie Hubig, Bundesjustizministerin

Laut Claus bräuchte es stattdessen Safe Spaces, also sichere Orte, an denen Kinder nur unter Gleichaltrigen sein können. Sie nimmt die Hersteller in die Pflicht und fordert, neben den Spielen für Erwachsene auch dieselben Spiele nur für Kinder anzubieten. Auch die Endgeräte sind für sie noch zu oft eine Gefahr. Es brauche ihrer Meinung nach besondere Handys, Laptops und Tablets, die Kinder schützen. „Safe by device“ nennt Claus das.

Claus, möchte außerdem das Dunkelfeld mit einer neuen Untersuchung ausleuchten. Bis 2027 sollen deutschlandweit neunte Klassen befragt werden, um so Fälle sichtbar zu machen, die nicht in der polizei­lichen Statistik auftauchen.

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