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US-Garage-SamplerPatchwork der Minderheiten

Zeit, einen Mythos zu dekonstruieren: Der Patti-Smith-Gitarrist Lenny Kaye hat einen einflussreichen Garageband-Sampler der Sechziger neu aufgelegt.

Kaye (re.) – hier mit Mick Jagger. Bild: Promo

Mehr noch als die Musik ist die Legende von „Nuggets“ pophistorisch kanonisiert. Sie geht ungefähr so: Mitte der siebziger Jahre steckt Pop in der Krise. Der Wille zur Kunst, der Siegeszug der LP auf Kosten der Single, neue Technologien, neue Instrumente (Synthesizer!), der Triumph der handwerklichen Perfektion über die schnelle, kleine Idee – Teufelzeug, das Pop seiner ureigenen Qualitäten beraubt: die Kraft des Mit-der-Tür-ins-Haus-Fallens, der Instant Impact.

Mittenrein in die ambitionierte Agonie platzt „Nuggets“, ein Doppelalbum mit 27 Songs, zusammengestellt von Lenny Kaye, einem jungen Journalisten und Musiker aus New York. „Original Artyfacts From The First Psychedelic Era 1965–1968“ verspricht der Untertitel, primitive, aber effektive Garagenkracher der US-Post-Beat-Ära.

Deprimiert von der Prog- und Artrock-Lethargie, greifen junge Rockfans zu „Nuggets“, viele sind es nicht, aber praktisch alle gründen auf der Stelle eine Band und machen selber primitiven, aber effektiven Garagenkrach. Und nennen ihn Punkrock, das Wort hatte Lenny Kaye in seinen Linernotes verwendet. So wird „Nuggets“ zum Gründungsdokument der großen Revolte, die wir als Punk kennen. Und Lenny Kaye revoltiert mit, als Gitarrist der Patti Smith Group. So weit die „Nuggets“-Legende.

Kater der sechziger Jahre

Die aktuelle Neuauflage des Doppelalbums bietet die Gelegenheit, diese Legende auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Unwahr ist schon mal das Erscheinungsdatum. „Mitte der siebziger Jahre“ ist noch in weiter Ferne, als „Nuggets“ 1972 zum ersten Mal auf den Markt kommt. 72? Da kämpft Pop noch mit dem Kater der Sechziger, mit Altamont und den Manson-Morden, Vietnam-Wracks, Drogen-Wracks. Tonangebend sind intro- und retrospektive Künstler, Joni Mitchell, Neil Young, James Taylor. Artrock übt noch in der Ober-Sekunda.

Gravierender ist die zweite Legende von „Nuggets“. Keinesfalls handelt es sich bei Kayes Sammlung um mehr oder minder monochrome & monotone Proto-Punk-Garagen-Rocker in Lo-Fidelity. Eher um einen Querschnitt durch die weiße Popmusik der USA in den mittleren sechziger Jahren: nach der Beatlemania, vor Woodstock, als mit den Haaren auch die Songs ins Uferlose wuchern. Viel spannendere Zeiten hat es im Pop nicht gegeben, Kaye spricht von einer transition era, einer Übergangszeit.

Am Anfang der auf „Nuggets“ vertretenen transition stehen Beatles-Soundalikes wie The Knickerbockers oder Bands wie die Standells, die zu animalesk derbem R&B von frustrierten Frauen und schmutzigem Wasser erzählen. Eine Coverversion von Otis Reddings „Respect“ und das One Hit Wonder The Castaways fallen in die damals beliebte Kategorie Blue Eyed Soul, euphemistische Umschreibung des Versuchs von Weißen, den White Negro in sich zu entdecken, oder, in German-Hippie-Sprech: ihn rauszulassen.

Spektakulär auch die damals verbreiteten Ähnlichkeitswettbewerbe: Da beweist eine Band namens Sagittarius, dass noch viel mehr Mama und Papa geht als bei den echten Mamas & Papas. Ein Typ namens Mouse lässt den echten Dylan wie einen begabten Dylan-Darsteller aussehen. Lupenreiner Sunshine-Pop der leichten Sorte kommt von vergessenen Bands wie den Cryan Shames und The Mojo Men.

Frühe Inkarnation der Mojo Men

Liest man allerdings das Kleingedruckte, dann muss man das mit dem Vergessen relativieren. Sänger einer frühen Inkarnation der Mojo Men ist Sly Stone, der Jahre später die Massen in Woodstock higher & higher treiben sollte. Der „Nuggets“-Song der Mojo Men stammt von Stephen Stills, auch der war in Woodstock, mit Crosby, Nash & Young.

Als Produzent fungiert das Universalgenie Van Dyke Parks, das später große und kleine Genies wie Brian Wilson oder Rufus Wainwright zu manchem Geniestreich verhelfen sollte. Was Lenny Kaye da 1972 versammelt hat, sind also keineswegs nur obskure Provinzmusiker, die mal einen lichten Moment haben, um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden. Viele machen damals erste Schritte und halten sich bis heute im Pop-Geschäft.

Der Produzent Richard Gottehrer verwaltet seit Jahrzehnten erfolgreich das Patent auf eingängigen Drei-Minuten-Girlpop, für die Hits von Blondie ist er ebenso verantwortlich wie für den heutigen Retrosound der Raveonettes. Diverse Teilzeit-Beach-Boys- und -Byrds-Musiker haben auf „Nuggets“ ebenso ihre Spuren hinterlassen wie Al Kooper, Dylans Keyboarder und Mitgründer von Blood Sweat & Tears.

Faszinierend und manchmal gruselig zu sehen, was aus den Young Upstarts von einst wurde, wie der spätere Weg hier vorgezeichnet ist. Dass Todd Rundgren mal ein gefragter Produzent und Autor idiosynkratischer Soloalben werden würde, konnte niemanden überraschen, der „Open my eyes“ gehört hat. Der fabelhafte Hit macht Rundgrens Band Nazz 1968 zu Amerikas Antwort auf die Beatles – für eine Viertelstunde.

Das mit fünfeinhalb Minuten längste Stück auf Nuggets ist „Baby please don’t go“, Joe Williams’ Blues-Standard in einer Proto-Metal-Fassung der Amboy Dukes aus Detroit. Deren Leader Ted Nugent sollte Karriere machen als der wilde Mann des Hardrock, noch später als fanatischer Lobbyist der National Rifle Association und zuletzt als Wahlkampfhelfer der Republikaner mit markigen Worten: „Wenn Obama wiedergewählt wird, werde ich in einem Jahr entweder im Gefängnis sitzen oder tot sein.“ Leute wie er, die so mutig ihre Meinung sagen, hätten einen schweren Stand. Er fühle sich wie „ein schwarzer Jude beim Ku Klux Klan“ – so Nugent.

Ein Patchwork der Minderheiten hat Lenny Kaye für „Nuggets“ gestrickt. Als Potpourri schillernder Sektierer und Kaleidoskop künftiger Subkulturen hat „Nuggets“ nichts von seinem Reiz verloren.

Various Artists: „Nuggets – Original Artyfacts From The First Psychedelic Era 1965-1968“ (Rhino/Elektra)

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