US-Basketballerin kämpft gegen Rassismus: Gerechtigkeit statt Karriere
Gesten gegen Diskriminierung sind der US-Ausnahmespielerin Maya Moore zu wenig. Die Basketballerin pausiert und hilft einem Rassismusopfer vor Gericht.
Man muss sich schon ein wenig anstrengen, wenn man versuchen will, alle Triumphe von Maya Moore in ihrer langen Basketball Karriere aufzuzählen. Die vier Meisterschaften in der US-Profiliga WNBA stechen sicher heraus und auch die beiden olympischen Goldmedaillen. Doch dann ist da noch der Euroleague-Titel mit Ekatarinenburg, die spanische Meisterschaft mit Valencia, die chinesische Meisterschaft mit Shanxi und ihre vier Collegetitel mit der Universität von Connecticut. Moores Trophäenschrank dürfte mindestens doppelt so groß sein, wie der von LeBron James.
Die Laufbahn von Moore ist die glanzvollste, die der Basketballsport in den vergangenen 15 Jahren gesehen hat – auch, wenn man ihre männlichen Kollegen miteinbezieht. Und doch kam der größte Sieg ihres Lebens, beinahe zwei Jahre, nachdem sie zum letzten Mal das Trikot ihres Teams, der Minnesota Lynx, übergestreift hat.
Als am vergangenen Dienstag der 40 Jahre alte Jonathan Irons aus den Toren des Staatsgefängnisses von Missouri in Jefferson City trat, wurden Maya Moore, einer athletischen Erscheinung von 1,82 Meter Körpergröße, die Knie weich. Moore sank auf den Asphalt vor dem Gefängnis und wurde von Gefühlen überwältigt, die ihr keine Medaille und kein Pokalgewinn jemals hätten bescheren können.
Später, als die 31-Jährige sich wieder gefangen hatte, fand sie ein paar Worte, um diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen: „Ich bin froh, zeigen zu können, dass echtes Opfer zu echtem Wandel führt. Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir alle etwas aufgeben.“
Unschuldig hinter Gittern
Maya Moore hat mehr als nur ein wenig geopfert, um Jonathan Irons, der 23 Jahre lang unschuldig hinter Gittern saß, aus dem Gefängnis zu befreien. Moore hatte im Frühjahr 2019 die wohl großartigste Karriere im Basketballsport auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, um sich mit aller Kraft gegen die Ungerechtigkeit im US-amerikanischen Strafrechtssystem zu stemmen.
Moores Entschluss, sich ganz dem Kampf gegen Rassismus und für Gerechtigkeit, für Jonathan Irons, zuzuwenden, begann im Sommer 2016 zu reifen. Ihre Minnesota Lynx kämpften gerade um ihren vierten WNBA-Titel, und Moore bereitete sich auf die Olympischen Spiele von Rio vor. Doch sie spürte gleichzeitig, dass sie sich langsam, aber sicher einer Art Burnout näherte.
Fünf Profijahre auf höchstem Niveau nach vier anstrengenden Collegejahren begannen ihren körperlichen und seelischen Tribut zu fordern, zumal es für weibliche Basketballprofis keine Sommerpause gibt. Wer keinen zivilen Nebenjob oder eine Absicherung durch die Familie hat, der muss durch Europa oder Asien tingeln, um Geld zu verdienen.
Gleichzeitig schien schon in jenem Sommer die Polizeigewalt gegen Afroamerikaner in den USA das Maß der Erträglichkeit überschritten zu haben. Zuerst wurde der 32 Jahre alte Philando Castile in Minnesota während einer Kontrolle von einem Polizisten erschossen. Der Mord ereignete sich nur wenige Kilometer von der Arena, in der die Lynx ihre Heimspiele bestritten.
Fortsetzung der Sklaverei
Kurz darauf kam der 37-jährige Alton Sterling in Louisiana durch Schüsse aus einer Polizeiwaffe um. Noch bevor Colin Kaepernick seinen ersten Kniefall machte, beschlossen damals die Lynx, Farbe zu bekennen. Sie zogen sich zum Spiel schwarze T-Shirts über die Trikots, auf denen stand: „Wandel beginnt mit uns“. Auf der Rückseite der Schriftzug „Black Lives Matter“.
Für Maya Moore war die Solidaritätsbekundung jedoch nicht genug. Sie wollte mehr tun, sie wollte konkret etwas verändern, zumal es für weibliche Spitzensportlerinnen schwer ist, mit symbolischen Gesten Aufmerksamkeit zu schaffen. Moore begann sich zu informieren. Dabei blieb ihr Interesse vor allem an dem Buch „The New Jim Crow“ von Michelle Alexander und dem Dokumentarfilm von Ava DuVernay, der daraus entstand, haften. Alexanders Analyse des amerikanischen Strafrechtswesens öffnete ihr die Augen.
Alexander stellt in ihrem Buch die Masseninhaftierung von Afroamerikanern unverblümt als eine ganz direkte Fortsetzung der Sklaverei dar. Unter dem Deckmantel des harten Durchgreifens gegen Drogen und Kriminalität würden in den USA seit den 80er Jahren mehr Schwarze eingesperrt, als jemals in Sklaverei gelebt haben. Alexander beschreibt das US-Strafrecht als eines der wichtigsten Instrumente eines Kastensystems, das die schwarze Unterschicht dauerhaft von der Teilhabe an der amerikanischen Gesellschaft ausschließt.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Das Buch fiel nicht zuletzt deshalb bei Moore auf so fruchtbaren Boden, weil es in ihrem unmittelbaren Umfeld ein Opfer dieses Systems gab. Schon zu ihrer Zeit im College hatte ein Cousin ihr von einem jungen Mann namens Jonathan Irons erzählt. Reggie Williams, der Cousin, arbeitete damals in Jefferson City, der Heimatstadt der beiden in Missouri, als freiwilliger Seelsorger in einem Gefängnis.
Verurteilt ohne Beweise
Dabei hatte Irons ihn berührt – durch seine Sanftmut, seine Klugheit und seine Neugier. Deshalb begann er sich mit seinem Fall zu beschäftigen. Schon damals, als Moore in ihrem zweiten Jahr im College spielte, nahm Williams sie mit ins Gefängnis, um Irons kennenzulernen. Die beiden hielten über Jahre engen Kontakt, auch wenn Moores durch ihre Karriere sehr in Anspruch genommen wurde. „Er wurde fast so etwas wie mein Bruder.“
Jonathan Irons war wie viele junge Schwarze in Armut und ohne Vater aufgewachsen. Als er 16 war, ging er nur noch unregelmäßig in die Schule und war dabei, auf die kriminelle Bahn abzurutschen. Er hatte Verbindungen zu Straßengangs und trug meistens eine Waffe bei sich. Das wurde ihm am 14. Januar 1997 zum Verhängnis. An diesem Tag wurde Stanley Stotler bei einem Einbruchdiebstahl angeschossen. Irons war am selben Tag mit einer Waffe in derselben Gegend unterwegs.
Das allein genügte den Geschworenen, Irons zu verurteilen. Es gab kein Blut, keine Fingerabdrücke und keine Zeigen, die ihn am Tatort gesehen hatten. Wie in so vielen Fällen in Amerika reichte es aus, dass er als Schwarzer zur falschen Zeit am falschen Ort war. So wie etwa der Boxweltmeister Rubin „Hurricane“ Carter, der unschuldig und ohne Beweise im Jahr 1967 zu lebenslanger Haft verurteilt wurde und erst nach 16 Jahren wie Irons rehabilitiert wurde. Oder die fünf Jugendlichen, die 1991 im Central Park aufgegriffen wurden und zum Teil Jahrzehnte wegen einer Vergewaltigung im Gefängnis zubrachten, obwohl sie nachweislich nicht in der Nähe des Tatorts waren.
Das Urteil gegen Irons war ungewöhnlich hart. Weil der damals 16-Jährige vorbestraft war, wurde er als Erwachsener abgeurteilt. 50 Jahre ohne Bewährung bekam Irons aufgebrummt, sein Leben schien zu Ende. Man dürfe sich nicht davon täuschen lassen, dass er so jung sei, sagte der Richter bei der Urteilsverkündung, Irons sei ein gemeingefährlicher Verbrecher.
Der Richter lag mit dem Urteil im Trend jener Zeit. Seit Richard Nixon übertrafen sich in den USA die Politiker mit ihrer Law-and-Order-Rhetorik, und der demokratische Präsident Bill Clinton war keine Ausnahme. Im Jahr 1994 verabschiedete Clinton ein Verbrechensbekämpfungsgesetz, das als das härteste und weitreichendste in der Geschichte der USA angesehen wird.
Wieder aufgenommenes Verfahren
Teil des Gesetzes waren Vorgaben für besonders harte Haftstrafen und ein Paket von 10 Milliarden Dollar zur Ausweitung der Gefängnisse. Das Gesetz wird heute als eine der Hauptursachen für die Überfüllung der US-Gefängnisse und für jenes Problem gesehen, das Elizabeth Alexander beschreibt. Zahlreiche Regelungen des Gesetzes wurden im vergangenen Jahr vom Kongress mit überwältigender Zustimmung beider Parteien wieder rückgängig gemacht.
So wurde Moore immer klarer, was zu tun ist. Sie begann sich einzumischen. Sie studierte mit ihrem Cousin den Fall. Sie besuchte Irons immer häufiger im Gefängnis. Und sie bezahlte einen hochkarätigen Rechtsanwalt, der daran arbeitete, den Fall wieder aufzurollen.
Maya Moore war ausgebrannt vom Basketballspiel, ihre Motivation war auf dem Tiefpunkt. In ihrer neuen Aufgabe hatte sie eine Erfüllung und einen Sinn gefunden, der ihr auf dem Spielfeld verloren gegangen war. Moores Einsatz trug Früchte.
Im Sommer des vergangenen Jahres hatten Moore und ihre Anwälte den Richter überzeugt, das Verfahren wieder aufzunehmen und neue Beweise zuzulassen. Dazu gehörten Fingerabdrücke am Tatort, die nicht von Jonathan Irons stammten. Die Abdrücke wurden im ersten Prozess nicht zugelassen. Im März dieses Jahres hob ein Richter in Missouri schließlich den Schuldspruch gegen Irons auf.
Nun müssen beide ein neues Leben beginnen, Irons und Moore. Und beide haben nach Irons Entlassung in der vergangenen Woche gesagt, dass sie sich Zeit damit lassen wollen, sich in ihrer neuen Wirklichkeit zurechtzufinden. „Ich muss mich jetzt erst einmal erholen“, sagte Maya Moore. Ihr letzter Sieg war zwar körperlich weniger anstrengend als alle anderen, dafür seelisch umso härter.
Ob sie jemals wieder auf das Basketballfeld zurückkehren will, weiß sie noch nicht. Ihre neue Rolle als Kämpferin für soziale Gerechtigkeit in Amerika steht ihr jedenfalls mindestens ebenso gut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?