US-Abgeordnete reden mit Ex-Häftling Kurnaz: "9/11 entschuldigt gar nichts"
Erstmals sprach mit dem Bremer Kurnaz ein Ex-Guantanamó-Häftling mit US-Kongressabgeordneten. Diese wussten wenig, beteuerten aber das Lager sei "unamerikanisch".
Der heute 26-jährige, in Bremen aufgewachsene Türke Murat Kurnaz, wurde von 2002 bis 2006 auf der amerikanischen Militärbasis Guantanamó auf Kuba gefangen gehalten. Nach eigenen Angaben war er 2001 nach Pakistan gereist, um dort den Koran zu studieren. Dabei wurde er gefangen genommen und gegen Kopfgeld an US-Militärs in Afghanistan übergeben worden. Bereits während seiner Gefangenschaft herrschte zwischen deutschen und amerikanischen Behörden Einigkeit, dass Kurnaz keinerlei Kontakte zu Terror-Organisationen hatte und unschuldig in Haft war. Nach seiner Freilassung erhob Kurnaz schwere Vorwürfe gegen deutsche und amerikanische Behörden und berichtete von physischen und psychischen Misshandlungen durch die Amerikaner in Afghanistan und auf Kuba. Der ehemaligen rot-grünen Bundesregierung wird vorgeworfen, eine Freilassung von Kurnaz im Jahre 2002 absichtlich vereitelt zu haben. Erst auf Druck von Bundeskanzlerin Angela Merkel war Kurnaz 2006 frei gekommen.
Sie wollten ihn nicht einreisen lassen. Keine Chance. Aber hören wollten die amerikanischen Abgeordneten den ehemaligen Guantánamo-Häftling Murat Kurnaz trotzdem. Also haben Techniker eine Videoschaltung aufgebaut zwischen dem Sitzungssaal III der Bremischen Bürgerschaft und dem Kongressgebäude in Washington. Am Dienstag tagte der Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten des US-Repräsentantenhauses zum Thema: "Die Fehler von Guantánamo und der Niedergang des Ansehens Amerikas". Und zum ersten Mal überhaupt sollte dabei ein einstiger enemy combattant, ein feindlicher Kämpfer also, über seine Inhaftierung im Camp X-Ray auf Kuba befragt werden.
Es gibt Probleme mit der Technik. Murat Kurnaz sitzt mit seinem Anwalt Bernhard Docke an einem Tisch vor einem großen schwarzen Bildschirm und wartet. Seinen Bart hat er abrasiert, er trägt einen glänzenden schwarzen Anzug, ein weißes Hemd mit rotem Einstecktuch, seine Haare sind mit Gel nach hinten gekämmt. Nur eine Handvoll Menschen ist mit im Raum, die Medien haben das Interesse an ihm offenbar verloren, obwohl Docke sich persönlich die Mühe gemacht hat, Journalisten einzuladen. In der Hand hält Kurnaz eine vierseitige Erklärung, die er später verlesen wird. Auf Englisch. Das hat er von seinen Wärtern in Guantánamo gelernt.
"Ich gebe Osama Bin Laden die Schuld dafür, fünf Jahre meines Lebens verloren zu haben", steht auf den Blättern und dass der Koran ihn gelehrt habe, dass man niemals sich selbst, Frauen oder Kinder töten dürfe. Noch immer sitzen 257 Häftlinge in Guantánamo. Dass sie freikommen und es künftig keine Foltergefängnisse mehr geben möge, darum sei er hier, sagt er.
Die Techniker haben den Fehler gefunden, und auf dem Bildschirm erscheint der Ausschussvorsitzende Bill Delahunt, ein Demokrat und ehemaliger Staatsanwalt aus Massachusetts. "Wir wollen die Gründe für die Wandlung des amerikanischen Ansehens in der Welt untersuchen", sagt er etwas umständlich. Sein Urteil steht offenbar bereits fest. "Guantánamo ist der Ort für die Unglücklichsten der Unglücklichen." Die dortigen Gefangenen seien "die Beute von Kopfgeldjägern, die einen schnellen Dollar machen wollten." "Keine fünf Prozent" seien von amerikanischen Soldaten gefangen genommen worden. Das gilt auch für Kurnaz. Milizionäre aus Pakistan hatten ihn als angeblichen Taliban für 3.000 Dollar an die Amerikaner in Afghanistan verkauft. "Doch die amerikanische Justiz hat keine Angst vor der Wahrheit, sie sucht die Wahrheit", sagt Delahunt. Wasserfolter, Isolationshaft von 14-jährigen: "In dem Camp wurden amerikanische Werte ignoriert. Das war verheerend für unser Ansehen in der Welt. Es werde "Jahrzehnte dauern, den Schaden zu beheben", fürchtet er.
"Kein Fall von Sadismus"
Würden all die Vorwürfe stimmen, wäre das "natürlich vollkommen inakzeptabel", entgegnet ihm sein Stellvertreter, der kalifornische Republikaner Dana Rohrabacher. Rohrabacher ist Redenschreiber von Ronald Reagan gewesen und hatte sich in den 1980er-Jahren als Emissär der amerikanischen Rechten zur Unterstützung der Taliban im Kampf gegen die Sowjets lange in Afghanistan aufgehalten. "Wenn aber physische Gewalt nur benutzt wird, um den physischen Widerstand von Gefangenen zu brechen, dann liegt ganz offensichtlich kein Fall von Sadismus oder Misshandlung vor." Dann nämlich handele es sich um "normale Vorgänge wie in jedem Gefängnis der Welt". Überhaupt mache es "viel mehr Sinn, die Leute auf Guantánamo zu verhören, als in den Ländern, in denen sie aufgegriffen wurden, weil unsere Verhörspezialisten dann jeweils dorthin reisen müssten". Sie in die USA zu bringen komme ebenfalls nicht in Frage. "Würden wir für sie die gleichen rechtlichen Standards wie für Amerikaner anwenden, dann müssten wir uns auf viele freie Terroristen und viele neue Opfer einstellen." Immerhin räumt er Fehler ein: "Ich habe noch nie eine militärische Operation gesehen, bei der keine Fehler gemacht wurden." Doch Guantánamo sei kein Ort, an dem es eine Art "Erbsünde des Bösen" gebe.
"Keine Supermarkträuber"
Von dort seien 500 Gefangene freigelassen worden, von denen eine "signifikante Zahl nach ihrer Entlassung das Morden fortgesetzt und sich wieder islamistischen Milizen angeschlossen hat", sagt Rohrabacher. Die Foltervorwürfe zweifelt er an. Die CIA habe eingeräumt "in drei Fällen Waterboarding" angewendet zu haben, um Geständnisse von Terroristen zu erpressen. Beim Waterboarding wird dem auf ein Brett gefesselten Opfer im Liegen Wasser über den Kopf geschüttet, bis es zu ertrinken glaubt. In diesen drei Fällen sei die Maßnahme "gerechtfertigt" gewesen, sagt Rohrabacher. "Sollte das aber öfter vorgekommen sein, dann müssen wir das wissen." Doch wenn schon: Ähnliche Praktiken kämen auch bei der Ausbildung des amerikanischen Militärs zur Anwendung. "Es handelt sich dabei nicht um körperliche Folter, sondern um psychologischen Druck, und der ist legitim."
Murat Kurnaz starrt auf den Bildschirm und regt sich nicht. Rohrabacher fährt fort: "Wir misshandeln die Gefangenen in Guantánamo nicht. Aber sie haben nicht die gleichen Rechte wie Supermarkträuber in Amerika. Die Räuber sind keine Terroristen, und wir führen keinen Krieg gegen sie. Gegen die Islamisten aber schon." Das sei "kein Imperialismus, keine Aggression". Sondern "Selbstverteidigung". Auch im Zweiten Weltkrieg habe es Kollateralschäden gegeben. "Ich glaube an den Krieg gegen den radikalen Islam", schließt er.
Der Ausschussvorsitzende erteilt dem Anwalt eines Inhaftierten das Wort. "Ich vertrete einen unschuldigen Mann, der sich sicher ist, dass er in Guantánamo sterben wird", sagt der Anwalt. "Er hat mich gebeten, seiner Frau zu sagen, dass sie ihn als tot betrachten soll, damit sie wieder heiraten kann."
Dann spricht Kurnaz. Er erzählt, wie er zum Koranstudium nach Pakistan ging, verschleppt und dann jahrelang gefoltert wurde. "Einmal hat man mich fünf Tage lang an den Händen gefesselt und an einer Kette an der Decke hochgezogen. Ich wurde nur runtergelassen, um einem Arzt vorgeführt zuwerden. Als der dann O. K. sagte, wurde ich immer wieder hochgezogen, bis ich ein Papier unterschrieben habe." Ob es dabei Kameras gab, will ein Abgeordneter wissen. Kurnaz bejaht. Der Abgeordnete findet das "sehr interessant".
"Das sind ohne Zweifel schwere Straftaten", sagt ein Ausschussmitglied. Er hoffe sehr, dass "wir die Verantwortlichen in den nächsten paar Jahren zur Rechenschaft ziehen können". Ein anderer Abgeordneter sagt, es sei "schwer zu verstehen", dass die US-Regierung schon 2002 wusste, dass er nachweislich unschuldig war und ihn dennoch nicht freigelassen habe. "Mr Kurnaz, haben Sie irgendeine Idee, warum man Sie als enemy combattant eingestuft hat, obwohl man es besser wusste? Können Sie Licht in dieses Dunkel bringen?" Murat Kurnaz kann das nicht. Er hat keine Idee.
Rohrabacher, Reagans Redenschreiber, meldet sich wieder zu Wort. Ob Kurnaz sich sicher sei, dass es sich bei seiner Folterung um Waterboarding gehandelt habe, will er wissen. Denn das habe die CIA nur in drei Fällen zugegeben, und der von Kurnaz sei nicht darunter. "Nein", sagte Kurnaz. Nicht Waterboarding habe man bei ihm angewendet, sondern water treatment, Wasserbehandlung, das sei nicht dasselbe. "Man hat meinen Kopf in einen Eimer Wasser gesteckt und mich dann so hart in den Magen geschlagen, dass ich unter Wasser einatmen musste und meine Lungen voller Wasser sog." Rohrabacher ist offenbar zufrieden, das Kurnaz nicht die CIA der Lüge bezichtigt. Zum Dank glaubt er ihm. "Hier sind Fehler gemacht worden", sagt er und dann noch etwas von "Entschädigung". Aber eines verstehe er nicht: "Wir sind sehr harsch für Guantánamo kritisiert worden, vor allem von Deutschland. Wieso haben die ihn dann so lange nicht zurückgenommen?"
Von diesem Punkt abgesehen sind die Abgeordneten erstaunlich schlecht informiert, viele Dinge, die seit Langem in den Zeitungen standen, wie die Tatsache, dass Kurnaz Türke ist, sind einigen nicht bekannt. Immer wieder sprechen sie seinen Namen falsch aus, meist nennen sie ihn "Kurzan".
Dann fragen sie sich, ob sie all das früher hätten wissen müssen, schließlich haben schon 107 Kongressabgeordnete das Camp X-Ray besucht. Auch einige der Ausschussmitglieder waren dort. "Mr Kurnaz, haben Sie während Ihrer Gefangenschaft je gewählte Repräsentanten gesehen?" Kurnaz kann sich nicht daran erinnern. Sie sind erleichtert. "Wir hatten keine Möglichkeit, all das zu wissen. Sie haben uns ja nur gezeigt, dass die Klimaanlagen funktionieren, aber uns nicht mit den Gefangenen sprechen lassen", sagt eine Abgeordnete. "Das hier ist ein großartiges Land mit einer großartigen Verfassung. Die Kategorie des enemy combattant muss abgeschafft werden. Das ist total illegal", meint sie dann noch.
"Positiv überrascht"
Als Erstes fällt es dem Demokraten Jerrold Nadler ein. Er ist Vorsitzender des Subkomitees für Verfassung und Bürgerrechte. "Mr Kurnaz, hat sich die Regierung je bei Ihnen entschuldigt?" - "Nein, niemals." - "Dann lassen Sie mich mein tiefstes Bedauern ausdrücken", sagt Nadler. "Was Ihnen angetan wurde, war grausam, unzivilisiert, hochgradig illegal, es war unwürdig. Unser Land wurde am 11. September auf schreckliche Weise angegriffen. Aber das entschuldigt überhaupt nichts."
Der Vorsitzende Delahunt versichert Kurnaz, man stehe zu seinen Fehlern und arbeite daran, das, was Kurnaz angetan wurde, wiedergutzumachen. "Denn das ist wahrer amerikanischer Patriotismus." Dann sagt er noch auf Deutsch "Vielen Dank", und diesmal spricht er Kurnaz Namen richtig aus. Er sei "positiv überrascht von dem kritischen Grundton", meint später Kurnaz Anwalt Bernhard Docke. "Der Kongress hat jahrelang seine Kontrollpflicht vernachlässigt und die Regierungspolitik durchgewunken. Nun scheint er zu erwachen." Die Anhörung sei hoffentlich "der Beginn einer längst überfälligen Aufarbeitung".
Die Entschuldigungen hätten ihn gefreut. Bisher war der einzige Politiker, der sich bei Murat Kurnaz entschuldigt habe, der Bremer Bürgermeister Jens Böhrnsen (SPD). Ansonsten gebe es nur das "bittere" Statement des Außenministers und ehemaligen Kanzleramtsministers Frank-Walter Steinmeier (SPD). Dieser habe über den Fall gesagt: "Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Ich habe keine Fehler gemacht und würde wieder so entscheiden."
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