piwik no script img

Turtel- tauben im Schlafrock

Die Shooting-Stars des DDR-Theaters beim diesjährigen Berliner Theatertreffen  ■ Von Sabine Seifert

Ich arrangiere“, sagt Leander Haußmann über seine Arbeit als Regisseur am Morgen nach der Premiere. Improvisieren bei den Proben sei ihm verhaßt, „ein improvisierender Schauspieler ist eigentlich der größte Lügner“. Leander Haußmann war Schauspieler von Beruf, bevor er mit der Regie anfing und „aus dem Produzieren einfach nicht mehr rauskam“. Er legt Wert darauf, „kein verhinderter Schauspieler“ zu sein. Der junge Mann mit den halblangen Haaren plaudert gekonnt über die Pausen hinweg, die ihm sein Partner im Gespräch mit dem Publikum, Peter Iden, einbrockt. Ein Arrangeur eben, der geschickt ein kritisches Wort aufgreift und für sich und sein Publikum komisch wendet. Sicher seien Freunde von ihm gestern abend dagewesen, antwortet er einem nachdenklichen Herrn, der neben einigen Buhrufern eine ganze Clique von Claqueuren ausgemacht hat. Da seien auch seine Mutter und sein Vater und vielleicht noch der Schwager anwesend gewesen, sicher hätten die „bravo“ gerufen, wer könne es ihnen übelnehmen? Wer kann es ihm bei aller Offenheit übelnehmen? Jedesmal geht ein Stöhnen der zahlreich erschienenen SchauspielschülerInnen durch die Reihen, wenn eine Verständnisfrage zum Stück gestellt, gar Unverständnis für einen der Manierismen ihres Regisseursidols geäußert wird. Ein neues Regie- und Verkaufstalent ist geboren, Leander Haußmann und seine Weimarer Inszenierung von Ibsens Nora waren zweifelsohne das mit größter Neugier erwartete Ereignis des diesjährigen Theatertreffens.

„Heute würde ich es etwas sparsamer machen“, sagt Haußmann bei der Diskussion über Ein Puppenheim (Nora), das im Juni 1990 in Weimar Premiere hatte. Tatsächlich gibt es von allem zuviel — zu viele Auf- und Abtritte, zu viele Verrenkungen, die die Ausführenden gestisch einschränken, zu viele hohe Töne, die ihre Sprecher nicht von dieser Tonlage runterkommen lassen. Ein Zuviel an ironischen Mitteln der Brechung und Distanzierung, die, jedes für sich betrachtet, hübsch, die, jedes für sich genommen, wirksamer wären. Bei Aktende entwischt Nora beinahe jedesmal aus dem Bühnenbild und schlüpft erst in letzter Sekunde unter dem fallenden Vorhangstoff zurück. Vor Aktbeginn bezieht die Kinderfrau mit den drei Gören jedesmal vor dem Vorhang Stellung, zitiert mahnend Textpassagen aus dem Struwelpeter oder anderen Büchern der schwarzen Pädagogik, erhebt drohend den Zeigefinger und spricht ihr „Wehe, wehe, dreimal wehe, wenn ich auf das Ende sehe“. Denn das ist furchtbar — in der Tat.

Haußmanns Nora (Alfred-Kerr- Preisträgerin Steffi Kühnert) ist eine lebensfrohe Kindfrau, listig-kokett im Umgang mit den Männern, forsch im Umgang mit ihrer Freundin Christine. Keine streitlustige Emanze, keine leidende Heroine, sondern eine, der es zu Hause eigentlich gut gefällt. Ein bißchen langweilig ist es vielleicht im adretten Puppenheim, das affige, trippelnde, fast tänzerische Bewegungen erforderlich macht, expressiv und abgebremst zugleich. Bis kurz vor Ende scheint Nora an ihre Lebenskonstruktion zu glauben, an ihren Mann Helmer, den Bankdirektor, der sie vergöttert und wie ein Vögelchen zwitschern und gurren läßt. Zwei Turteltauben im Schlafrock. Helmer läßt sie fallen, will ihr gar die Erziehung der Kinder wegnehmen, als er von der Urkundenfälschung hört, die sie doch seinetwegen begangen hat. Noras Desillusionierung findet bei Haußmann zu plötzlich, nicht überzeugend genug statt, vielleicht weil er zuviel Arbeit darauf verwendet hat, die häusliche Illusion zu errichten, das Lügen- und Fassadenspiel so kunstvoll vorzuführen, daß sich seine Protagonisten darin verstrickt haben.

Hätte er doch an diesem Punkt das Spiel abgebrochen und Ibsens aufklärerisch-emanzipatorisches Ende schlicht weggelassen. Noras plötzliche Einsicht, vernünftiges Reden, klarer Tatendrang, ihr Entschluß wegzugehen und Mann und Kinder zu verlassen, wirken abrupt und aufgesetzt. Als hätte der Regisseur das gespürt, setzt er dem Ende noch eins und noch eins drauf. Nach einer filmreifen Koffer- und Kleiderschlacht sucht Helmer nach seinem Gewehr, die beiden ringen um die Waffe, aus der sich ein für Nora tödlicher Schuß löst (den es bei Ibsen nicht gibt). Doch es nimmt auch jetzt kein Ende vom Ende, die Bühne beginnt sich zu drehen („Mich hat der Widerspruch gereizt, in einem naturalistischen Raum mit Kostümen aus der Zeit eine moderne Spielweise zu etablieren“, sagt Haußmann zu dem von Franz Havemann geschaffenen Bühnenraum). In schummriges Licht getaucht zeigt sich der Lauscher hinter der Wand, offenbart sich ein Leben hinter den Kulissen. Noras Freundin Christine tanzt stumm — die Schallplatte mit dem Piaf-Lied hat seit dem Schuß einen Sprung — mit Krogstad, dem Erpresser, den sie mit Liebesversprechungen zur Rücknahme des inkriminierenden Briefes gebracht hat. Der innige Tanz im Mondschein trügt. „Bei Ibsen wird fast immer gelogen, bei Strindberg sagen sie fast nur die Wahrheit“, erzählt Haußmann, der als nächstes ein Stück des Schweden inszenieren wird. „Es kommt fast das gleiche dabei raus.“

Leander Haußmann, das hoffnungsvolle, wenn auch noch etwas unreife Regietalent, wie es einige Kritiker gerne sehen und wohl meinen, wird oft in einem Atemzug mit Frank Castorf genannt, dem anderen jungen Regiestern vom verblassenden DDR-Theaterhimmel. Noch vor einem Jahr hatte sich das Publikum wegen Castorf beinahe geprügelt. In diesem Jahr war Castorf wieder eingeladen, auch er mit Ibsen. Die Theatertreffen-Premiere von John Gabriel Borkmann mußte wegen einer Umbesetzung verschoben werden. Zum ebenfalls verschobenen Gespräch im Spiegelzelt erschien das Publikum in magerer Besetzung, der Regisseur selbst gar nicht. Seine Fans gehen lieber fähnchenschwenkend in die Volksbühne, um sich Castorfs Räuber von Schiller anzusehen, wo Wut und Schmerz über das Ende der DDR blind und genial um sich schlagen. Für manche ein Endspiel, für andere ein Heimspiel.

Eingeladen zum Theatertreffen war die jüngere, die weniger brüchige, weniger sprunghafte Inszenierung. Das haben Haußmann und Castorf gemeinsam: Ibsen ist komisch. Für den einen scheint er eher albern-banal, während es bei Castorf schön tiefsinnig redet, Ironie anführt, nicht schrill, sondern seltsam ist.

Wiedersehen macht Freude. Wiedersehen macht sie verständlicher. Obwohl alle lobend sich darüber geäußert hatten, daß Castorf platte Übertragung auf die Verhältnisse vermieden hat, wird beim zweiten Hinsehen die subtile Zeichnung der nachwirkenden DDR-Vergangenheit deutlich. Eine Ahnung bloß, denn wie viele Anspielungen, Assoziationen werden den Westbesuchern am Deutschen Theater entgehen? Gemahnt nicht das Spiel von Tanne 1-2-3 (die Szenenanweisungen im letzten Akt werden mitgesprochen) an die Protokollstrecke nach Wandlitz, wo sich bei gegebenem Anlaß hinter jedem Baum ein Spitzel versteckt hielt? Andere Textstellen werden deutlicher montiert: „Es gab eine Zeit, und die liegt nicht sehr lang zurück, als man auch in diesem Lande mit ein bißchen Ironie sein Glück machen konnte.“ Das stammt übrigens von Kierkegaard und nicht von Ibsen.

Castorf entwirft mit dem alten, unbelehrbaren Borkmann, dem gescheiterten Frühkapitalisten, der nach wie vor an sich glaubt, was ihn nicht unsympathisch, aber zum Zyniker macht, das Bild einer an ihrer verstaubten Ideologie erstickten Epoche. Knochentrocken. „Ihr müßt euch mal riechen“, sagt Borkmanns Sohn Erhard zu seiner Mutter und ihrer Schwester, die verdutzt aneinander schnüffeln. Erhard will mit seiner Eroberung Fanny weg- (bzw. rüber-)gehen. „Ich will leben, nicht arbeiten“, bringt er verzweifelt-komisch seinen Haß auf die alle Lust und Sinne austreibende Arbeitsgesellschaft auf den Punkt. Mit ihm ist kein Staat mehr zu zu machen.

Seine Mutter und seine Tante, verhärmt und verbissen alle beide, wenn auch Tante Ella, die von Borkmann einst geliebt und des Geldes wegen verschmäht wurde, noch einen Funken mehr Wärme im ausgemergelten Leib zu haben scheint, die Frauen also rangeln um Sohn und Neffen. Als wäre das der einzig verbliebene Lebensinhalt, teilen sie kräftig mit ihren Hintern Hiebe aus, um einen Platz im Sessel zu ergattern. Borkmann kann seine Frau nicht ausstehen, er bläst störrisch das Horn. Nachdem die jungen Leute weggefahren sind, kommen die drei alten Leute aus dem Haus heraus, das sie wie ein Gefängnis von der Außenwelt abgeschirmt hat. „Wo sind wir denn hier?“ fragt Ella. „Ich kenne mich nicht mehr aus. Es war unser Lebenstraum, und jetzt ist alles im Schnee begraben.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen