Turnerinnen in Rumänien: "Ich werfe dich an die Wand"
Entbehrungen, Schmerzen und Schläge. Regisseurin Anca Lazarescu weiß, wie Rumäniens Turnsternchen Raluca Haidu aufgestiegen ist und hat einen Film darüber gedreht.
"Das Geheimnis von Deva" heißt der Dokumentarfilm über das legendäre gleichnamige Turnzentrum unweit von Bukarest. Filmemacherin Anca Lazarescu hat zwei junge Turnerinnen intensiv begleitet, eine davon ist Raluca Haidu, genannt Pitic, der Zwerg. Sie wolle zu Olympia, sagt sie als Achtjährige im Film. Heute steht sie als beste Rumänin der Qualifikation im Mehrkampf der Turn-WM in Tokio.
taz: Frau Lazarescu, wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Film über Deva zu machen?
Anca Lazarescu: Ich bin in Rumänien groß geworden, als Kind habe ich selber von Deva geträumt, es stand als Symbol für diese Sportart. Als es an der Filmhochschule eine Ausschreibung für eine Reportage in Rumänien gab, war klar, ich will mit der Kamera hin.
Wie haben Sie Ihre Protagonistinnen ausgesucht?
Ich durfte in verschiedene Klassen reinschauen. Meine Aufmerksamkeit fiel rasch auf Raluca, weil sie witzig und komisch war und ständig was angestellt hat. Es war auch klar, dass sie gut war, sie hatte von Anfang an einen irrsinnigen Willen voranzukommen.
Raluca und ihre Freundin Malina scherzen und lachen viel in Ihrem Film, das sieht man bei erwachsenen rumänischen Turnerinnen fast nie.
Es hat mir wirklich viel Schmerz bereitet festzustellen, wie sie sich geändert haben im Laufe dieser Zeit, ich habe sie eben als quicklebendige und fröhliche kleine Personen kennen gelernt. Die älteren Mädchen des Olympiakaders hatten auch damals alle einen sorgenvollen Gesichtsausdruck.
Weil sie Leistung bringen müssen.
Ja, der Drill und der Druck sind immens. Es ist ganz häufig ein selbst auferlegter Druck, weil die ganze Umgebung, vor allem die Familie, so unglaublich viel von ihnen erwartet. Wenn man in den Olympiakader kommt, gibt es ein Stipendium und auch von den Preisgeldern bleibt den Mädchen etwas.
In einer Situation im Film schreit der Trainer Florin Cotitiu ein Kind nach misslungener Übung an: "Du dumme Kuh! Verschwinde aus der Halle, sonst werfe ich dich an die Wand!"
Also, ich muss ganz ehrlich sagen: Diese Szene - sie ist ja eine Art Höhepunkt im Film - ist gängiger Alltag und eigentlich auch noch eine der softeren Szenen.
Cotitiu sagt auch im Film, das Training müsse so hart sein, wie es ist.
In vielen Gesprächen hat er mir versucht klarzumachen, dass das die einzige Möglichkeit sei, die Mädchen nach vorn zu bringen. Schlagen ist eine der Methoden, die dafür sorgen, dass sie Gehorsam und Disziplin erlernen und vor allem so eine Art Demut.
Haben Sie während Ihrer Dreharbeiten miterlebt, wie Turnerinnen geschlagen wurden?
Nicht direkt vor meinen Augen, aber ich habe es gehört, und ich habe oft genug mit den Mädchen gesprochen, die sich gegenseitig getröstet haben. Es gehört einfach zum Alltag dazu. Manchmal rühmen sich die Mädchen damit, wer die härteren Erziehungsmaßnahmen abbekommen hat und wem das Ohr mehr abgerissen wurde. Oder ob es die Turnschuhe oder die Tasche war, mit der sie geschlagen worden sind.
Sind aus Ihrer Erfahrung derartige Erziehungsmethoden Teil der rumänischen Kultur oder spezifisch für die Sportart?
Ich würde sagen, dass beides zusammenfällt. Ich bin dort in die Grundschule gegangen und habe auch miterlebt, dass die Lehrerin ab und zu mal einen ausgeteilt oder mit dem Stock geschlagen hat. Das ist vielleicht vergleichbar mit den Erziehungsmethoden Deutschlands in den Fünfzigern oder Sechzigern.
Wie sehen Sie das Turnsystem insgesamt?
Turnen ist in Rumänien sehr wichtig, es hat eine große Tradition. Das Problem ist, dass das gesamte System eine wackelige Konstruktion ist, die darauf angewiesen ist, auf Erfolg getrimmt zu sein. Der Lebensstandard in Rumänien ist nicht so hoch. Das Turnen sichert also viele Existenzen.
Wie haben sich die Eltern der Turnerinnen dazu verhalten?
Die Eltern haben mir immer gesagt, am Ende zählt die Medaille. Der Erfolg belege doch, dass alles richtig gemacht werde. Aber das ist in Rumänien nicht überall so, und deswegen schicken gewisse Eltern ihre Kinder da auf gar keinen Fall hin. Es gibt nicht mehr ansatzweise so viele Kinder in Deva wie früher. Zu Ceausescus Zeiten war es ja geradezu eine Ehre, sein Kind in Deva zu haben.
Welchen Eindruck machten die Turnerinnen auf Sie?
Sie wissen, dass nur Entbehrungen dazu führen, dass sie überhaupt so weit oben sein können. Aber sie wollen es dann auch, sie sind damit groß geworden. Pitic hat mir das immer wieder gesagt: "Was ich will, ist London 2012!" Ich glaube, Glück bedeutet einfach, diese Erfolge zu haben.
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