■ Turnen: Die Musterschülerin
Frauenturnen? Die besten fünf Turnerinnen der WM in Birmingham waren im Schnitt 15,6 Jahre jung, 141 Zentimeter klein und ganze 25,6 Kilo leicht. Im Jahr eins nach Swetlana Boguinskaja aus Minsk, die als letzte Exponentin fraulicher Ausstrahlung in der absoluten Weltklasse galt, ist dies die fragwürdige neue Wirklichkeit.
Boguinskaja war es offensichtlich endgültig leid, mit den zwanzig Zentimeter kleineren und kraftstrotzenden Mädchen zu konkurrieren, die aufgrund ihrer Zwergenhaftigkeit bereits eine halbe Saltodrehung im Vorteil waren. Während sie jetzt für gutes Geld durch Westeuropa und die USA tingelt, nutzen ihre persönlichkeitsarmen Nachfolgerinnen die neuen Wertungsvorschriften, die die akrobatischen Elemente noch stärker gewichten, mit immer waghalsigeren Zirkusnummern aus.
Frauenturnen? Shannon Miller, die neue Mehrkampfweltmeisterin aus Oklahoma. 34 Kilo leicht ist sie und hätte, wie eine englische Zeitung schrieb, „im Handgepäck mitfliegen können“. Sie drückt ein allerletztes Mal ihren Rücken beängstigend weit zum Hohlkreuz durch, um sich dann mit spielerischer Leichtigkeit auf den Schwebebalken zu schwingen. Langer, gedrehter Krafthandstand, Flickflack, Salto und und und. Shannon beherrscht das nur zehn Zentimeter breite Gerät mit frappierender Sicherheit.
Pressekonferenz. Weiblich geschminkt nimmt die US-Amerikanerin an der Seite ihres Trainers Steve Nunno Platz. 16 Jahre alt ist sie im März geworden, doch sie sieht aus wie zwölf. Nur mit Mühe bringt sie ein Satzgefüge zu Ende. Nunno, 35 Jahre, sizilianischer Abstammung, redet für sie weiter: „Shannon ist nicht das scheue Mädchen, sie ist ungeheuer leistungsbereit, immer konzentriert, äußerst lernfähig, offenherzig und ehrlich.“ Und sie ist „ein Produkt achtjähriger Arbeit“. Acht Jahre lang sechs, sieben Stunden Training an sechs Tagen in der Woche.
Frauenturnen? „Turnen ist die beste weibliche Sportart auf der Welt.“ Nunno hat zu Hause vor acht Jahren ein heute blühendes Turnzentrum aufgebaut, in dem 25 Trainer 1.100 Mädchen für 300 Dollar im Monat (Unterbringung ist extra) betreuen. Nunno profitiert von einem wahren Turnboom in den USA. Ehrgeizige Eltern scheuen keine Kosten.
Die 18.000 Dollar, die er für seine Musterschülerin Shannon Miller („Ihre einzige Schwäche ist ihre übertriebene Selbstkritik.“) jährlich berechnet, bezahlen ihre Sponsoren. Der ehemals selbst passable Turner hat in Moskau gelernt. Begeistert vom dortigen Dynamo-Turnzentrum, nannte er sein Camp in Oklahoma ebenfalls „Dynamo“.Karl-Wilhelm Götte
Männer Gerätfinals, Ringe: 1. Yuri Chechi (Italien) 9,625, 2. Andreas Wecker (Berlin) 9,575, 3. Iwan Iwankow (Weißrußland) 9,500; Seitpferd: 1. Pae Gil Su (Nordkorea) 9,750 Punkte, 2. Andreas Wecker (Berlin) 9,425, 3. Karoly Schupkegel (Ungarn) 9,400; Boden: 1. Grigori Misutin (Ukraine) 9,400 Punkte, 2. Neil Thomas (England) und Vitali Scherbo (Weißrußland) beide 9,350
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