Tunesien nach der Revolution: Freiheit für die Bücher!
Besuch in einem Buchladen von Tunis: Verbotene Literatur liegt jetzt offen im Schaufenster. "Bücher brauchen kein Einreisevisum", freut sich die Händlerin.
TUNIS taz | Die Flaniermeile in Tunesiens Hauptstadt ist um eine Attraktion reicher. Gestern waren es nicht die rund 1.000 Demonstranten, die einmal mehr durch die Avenue Habib Bourguiba zogen, um den Rücktritt der Minister aus den Reihen der ehemaligen Regierungspartei RCD zu fordern, die das Interesse der Passanten auf sich zogen. Es waren auch nicht die Transparente und Sprühereien, die mittlerweile die Innenstadt von Tunis zieren. Es war ein Schaufenster. Dutzende von Menschen drängelten sich den ganzen Tag über vor der Buchhandlung Al Kitab, um Bücher zu sehen, von deren Existenz zwar viele wussten, die sie aber noch nie in der Hand gehalten haben.
"Ausstellungsexemplare verbotener Bücher", stand handgeschrieben auf Französisch und Arabisch zu lesen. Zwei Angestellte der Bücherei sammelten Unterschriften für die sofortige Freigabe der Buchimporte. Bisher genehmigt das Innenministerium, was in Tunesien gelesen werden darf und was nicht.
"Wir haben die Exemplare in unserem Freundeskreis gesammelt. Sie lagen irgendwo versteckt unter der Matratze", sagt die Chefin von Al Kitab, Selma Jabbes, und lächelt verschmitzt. Eine Großbestellung aus Frankreich sei bereits per Flugzeug unterwegs. Sie werde in den nächsten Tagen erwartet.
In Tunesien hat Freitag eine dreitägige Staatstrauer für die Opfer des Volksaufstands der vergangenen Wochen begonnen, deren Zahl offiziell mit 78 angegeben wird, inoffiziell aber auf über 100 geschätzt wird. Im ganzen Land wehten die Flaggen auf halbmast, im Staatsfernsehen wurden Koranverse rezitiert. Die Stimmung war feierlich. Das Religionsministerium forderte die Vorsteher aller Moscheen auf, für die "Märtyrer der Revolution des tunesischen Volkes" zu beten. Nahe des Innenministeriums in der Hauptstadt Tunis versammelten sich mehrere hundert Menschen zu einer friedlichen Demonstration. Einer der Demonstranten, Omar Shabani, sagte, die Stimmung im Land ähnele der von 1987, als Ben Ali mit einem unblutigen Coup die Macht übernommen hatte. "1987 war ich 23, und heute fühle ich mich wieder wie 23", sagte er. "Mit dieser Revolution ist meine Jugend zurückgekehrt." (dapd, afp)
"Dann werden wir sehen, was passiert", meint die streitbare Buchhändlerin. Sie habe sich immer an die Gesetze gehalten, aber jetzt will sie nicht mehr einsehen, "warum Bücher ein Einreisevisum brauchen". Auf den Schmuggel oder den bloßen Besitz verbotener Bücher stand bisher in Tunesien Gefängnis. Die wenigen Exemplare, die dennoch ins Land gelangten, wurden meist von ausländischen Besuchern hineingeschmuggelt.
Neben kritischen Analysen über das Regime des am 14. Januar gestürzten Präsidenten Zine El Abidine Ben Ali gibt es im Schaufenster auch geschichtliche Abhandlungen über die Ära des ersten Präsidenten der tunesischen Unabhängigkeit, Habib Bourguiba.
Auf Arabisch stehen in der Auslage unter anderem Werke von islamistischen Theoretikern wie des im Londoner Exil lebenden Chefs der tunesischen Ennahda-Bewegung, Rachid Ghannouchi. "Die Bürger haben das Recht, sich frei zu informieren. Das gilt für alle Tendenzen", meint Jabbes dazu.
Draußen überlegen sich die Schaulustigen bereits, was sie als Erstes kaufen, sobald die Lieferung eintrifft. " ,La Régente de Carthage' von Nicolas Beau et Catherine Graciet", meint einer - das über Internet bekanntgewordene französische Enthüllungsbuch über die Machenschaften der Präsidentengattin Leila Trabelsi und ihres Clans, die sich in den Jahren der Diktatur um unvorstellbare Summen bereichert haben.
Das interessiere ihn nicht, meint ein anderer: "Alles Vergangenheit!" Er werde eher zu einem universitären Text über die Verstrickung von Politik und Wirtschaft in Tunesien greifen.
Wieder andere interessieren sich für die Werke des tunesisch-französischen Journalisten Taoufik Ben Brik, der vor elf Jahren durch einen 42-tägigen Hungerstreik die Zensur in Tunesien anprangerte und 2009 sechs Monate im Gefängnis verbrachte.
Ein anderer vermisst sein Lieblingsbuch: "Notre ami Ben Ali". Der Maghrebspezialist der französischen Tageszeitung Le Monde, Jean-Pierre Tuquoi, analysiert darin mit weiteren Kollegen, wie und warum Frankreich und Europa Ben Ali stützten. "Es war auf die Schnelle einfach kein Exemplar aufzutreiben", entschuldigt sich die Buchhändlerin.
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