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Türkischer Wahlkampf auf Twitter#Tamam, es reicht!

Erdoğan sagt, die AKP werde sich erst zurückziehen, wenn das Volk „Tamam“ (Es reicht) sage. Auf Twitter wurde der Hashtag #Tamam weltweit zum Trend.

Foto: Naga Putrika Kahvaltı

Bis zur Jahrtausendwende waren für turkophile Ausländer Begriffe wie „Köfte“ existenziell für das Verständnis der türkischen Kultur. Mit der autoritären Entwicklung des AKP-Regimes erfolgt zunehmend die Politisierung von Alltagsbegriffen, die jenseits der türkischsprachigen Öffentlichkeit Bekanntheit erlangten. #Diren („Resist“) wurde während der Gezi-Proteste im Sommer 2013 weltweit zum meist geteilten Hashtag. Mit #Hayır („Nein“) mobilisierte die Opposition im April 2017 gegen das Referendum zur Einführung des Präsidialsystems. Seit gestern fluten Gegner des türkischen Staatspräsidenten das Twitterverse mit dem Hashtag #Tamam („Es reicht“).

Die Vorlage lieferte der Chef persönlich. Am Dienstagmorgen sagte Erdoğan bei einer Fraktionssitzung im Parlament: „Wenn unser Volk eines Tages sagt ‚Es reicht‘, werden wir Platz machen.“ Sekunden später wurde der erste Tamam-Tweet abgesetzt. Zwei Millionen weitere folgten bis zum Erscheinen dieses Textes, darunter natürlich von allen oppositionellen Präsidentschaftskandidat*innen. Besonders kreativ war das Presseteam des hinter Gittern sitzenden ehemaligen HDP-Co-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş, das erst einige Stunden nach Beginn der Twitteraktion einstieg: „Es gab ein Problem mit dem Wasserkocher, daher die Verspätung. ES REICHT.“

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Der Wasserkocher ist eine Anspielung auf eine „Twitterdurchsuchung“, die vergangenen Herbst in Demirtaş' Gefängniszelle durchgeführt wurde. Das Konzept der Öffentlichkeitsarbeit schien zu diesem Zeitpunkt in Ankara noch nicht in alle Behörden durchgedrungen zu sein, die selbst den Wasserkocher in Demirtaş‘ Zelle auf Internetzugang überprüfen ließen. Der Präsidentschaftskandidat der CHP, Muharrem İnce, ging einen Schritt weiter und machte aus dem Hashtag den Wahlslogan für die Kemalisten.

Ein Hashtag, der die Opposition eint

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AKP-Parteisprecher Mahir Ünal kommentierte den Hashtag: „Diese Tweets werden mehrheitlich aus Ländern verfasst, in der die FETÖ und die PKK aktiv sind“. Seine These untermauerte er mit einem Screenshot der „Twitter Heat Map“, auf dem in Echtzeit die Tweetfrequenz auf einer Weltkarte zu sehen ist: Glühende Bereiche sind die Türkei, Europa und Nordamerika. „Wir sehen uns in der Nacht am 24. Juni“, lautet seine drohende Antwort auf die #Tamam-Twitterer. Die allerdings sind nicht alle wahlberechtigt. Dennoch ist es denkbar, dass die AKP selbst hinter dem schlichten #Tamam von „Herr der Ringe“-Star und Lieblingshobbit Elijah Wood eine terroristische Absicht vermutet. Wikipedia-Gründer Jimmy Wales wählte da schon deutlichere Worte und appellierte direkt an den Staatspräsidenten.

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Das türkische Twitterfieber bewegte auch deutsche Politprominenz. Immerhin geht es hier um das Herkunftsland der größten ethnokulturellen Minderheit im eigenen Land. Serap Güler, Mitglied des CDU-Bundesvorstands, schrieb: „Von wegen die Türkei stehe hinter Erdoğan. #Tamam“. Ex-Grünenchef Cem Özdemir machte es raffinierter und münzte den Tweet globalpolitisch auf den US-Präsidenten: „Auch Präsident #Trump bräuchte ein #TAMAM, wie sein Bruder im Geiste, #Erdoğan. Kündigung des #IranNukeDeal befeuert nukleares Wettrüsten in der Region.“ Mit einem leichten Hang zu Übertreibung, aber unmissverständlicher Botschaft quetschte der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow so viele #Tamams wie nur möglich in einen Tweet.

Natürlich ließ die AKP-Basis diesen Online-Oppositionstumult nicht auf sich sitzen. Mit dem Hashtag #Devam („Es geht weiter“) twitterten regierungsfreundliche Tastaturhelden gegen die Auslandsmächte und schafften es nur auf knapp auf 224.000 Tweets. Nach Bereinigung der Bots, also der automatisierten Tweets, durch den Kurznachrichtendienst Twitter verlor #Devam sehr schnell an Zugkraft: 94.000 echte, von real existierenden Menschen abgesetzte Tweets blieben übrig.

So erfolgreich die Aktion im Internet ist, auf der Straße funktioniert sie leider nicht so gut. Eine spontane Mini-Demonstration, die gestern im Istanbuler Bezirk Kadıköy stattfinden sollte, wurde augenblicklich von der Polizei aufgelöst, mehrere Menschen verhaftet. Dennoch könnte die Aktion eine einende Wirkung auf die Opposition haben, die mit dem mehrdeutigen Begriff – Tamam kann auch als zustimmendes OK verwendet werden – einen positiv besetzten gemeinsamen Nenner vor den Wahlen etablieren könnte.

1994, als Erdoğan das erste Mal zum Bürgermeister von Istanbul gewählt wurde, lautete der Titel seines Wahlkampfsongs: Tamam Inşallah („Ok, so Gott will“). Sicher hätte der jüngere, zu dieser Zeit noch als empfindsame Korannachtigall bekannte Erdoğan nicht im Traum daran gedacht, dass sich dieser Wahlslogan fast ein Vierteljahrhundert später gegen ihn selbst wenden würde.

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