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Türkische VolkshäuserBürgerbewegung im Visier

Einst von Atatürk gegründet sind die Volkshäuser bekannt für ihr sozialistisches Selbstverständnis. Derzeit geht die Polizei verstärkt gegen sie vor.

Volkshäuser vereinen Menschen aus verschiedenen Milieus Foto: Murat Bay

Von der Repression der AKP-Regierung ist keine Oppositionsgruppe ausgenommen: Zuletzt gerieten dutzende Halkevleri (Volkshäuser) in Istanbul und anderen anatolischen Städten ins Visier der Polizei. Nach dem Einmarsch des türkischen Militärs im syrischen Afrin hatten die Volkshäuser eine Erklärung mit dem Titel „Der Afrin-Krieg ist ein Krieg zur Errichtung der Diktatur. Stoppen wir ihn!“ veröffentlicht und Anti-Kriegs-Aktionen durchgeführt.

Volkshäuser sind Bürgerorganisationen, die 1932 vom Staatsgründer Atatürk initiiert wurden, um Kultur-und Bildungsprojekte in Städten und der Peripherie umzusetzen. In den vergangenen Jahrzehnten haben sie sich zu einer linksalternativen Bürgerbewegung etabliert. Die Polizeieinsätze gegen sie begannen Ende Januar diesen Jahres mit den Verhaftungen der Aktivistin Yasemin Çakıcı Kolçak in Zonguldak und dem Vorstandsmitglied Kutay Meriç in Antalya.

Die Mitglieder reagierten mit Protesten, woraufhin elf weitere Personen in Ankara festgenommen wurden, darunter die Ko-Vorsitzende Dilşat Aktaş. Zeitgleich stürmte die Polizei ein Volkshaus in Konya auf der Suche nach Waffen, bei dem sie nach eigenen Angaben einem anonymen Tipp gefolgt sei. Bis auf Yasemin Çakıcı Kolçak wurden alle inhaftierten Volkshaus-Mitglieder inzwischen freigelassen. Kolçak hingegen feierte am 31. März ihren 51. Geburtstag hinter Gittern. Ihr Mann gratulierte vor dem Gefängnistor mit einem Plakat, auf das er seinen Geburtsgruß geschrieben hatte.

Wieso diese Härte?

Die landesweite Repressionswelle gegen die Volkshäuser lässt nicht nach: Auf Anordnung der Präfektur von Ankara wurden am 1. April drei Volkshäuser in Ankara und eine Bibliothek geschlossen. Letztere richteten Volkshausmitglieder im Andenken an Ethem Sarısülük ein. Sarısülük ist einer von acht Personen, die im Zuge der Gezi-Proteste 2013 getötet wurden. Darüber hinaus wurden Werkstatträume und Theatersäle geschlossen, in denen die Vereine soziokulturelle Aktivitäten für Kinder veranstalten. Wer sich wehrte, wurde verhaftet. Offiziell begründeten die Behörden diese Maßnahmen damit, dass an diesen Orten „nicht genehmigte Bildungsaktivitäten“ stattfänden. Im Verbotsprotokoll finden sich weitere Anschuldigungen wie „Veranstaltung von Kinderfesten“, „Workshops zu Kinderrechten“, sowie „laizistische wissenschaftliche Bildungsseminare“.

Die CHP-Abgeordneten Necati Yılmaz und Gaye Usluer bringen das Thema im Parlament auf die Tagesordnung und bezeichnen die Repressionswelle gegen die Volkshäuser als Versuch, „eine oppositionelle Einrichtung von ihrer Verbindung zur Bevölkerung abzuschneiden und ihre Freiheit zur Organisation zu behindern“. In nur anderthalb Monaten wurden rund 100 Mitglieder festgenommen.

Warum geraten die Volkshäuser dermaßen ins Visier der AKP? Die Antwort dafür liefert ein Blick in die Geschichte: Seit Gründung der Republik spielen die Volkshäuser eine wichtige Rolle für die sozialen Kämpfe im Land, sie können auf eine ideologisch-praktische Kampferfahrung zurückgreifen, die sie in den Jahren der AKP-Herrschaft sammelten.

Von staatlicher Institution zur autonomen Bürgerbewegung

Am 19. Februar diesen Jahres feierten die Volkshäuser ihr 86-jähriges Bestehen. Hinter der Gründung stand die Idee, mit Kultur- und Bildungsarbeit aus den osmanischen Überbleibseln eine moderne Gesellschaft zu schaffen und den Menschen ein Selbstverständnis als Staatsbürger zu vermitteln. Dabei waren die Volkshäuser zwar eng mit der kemalistischen CHP verbandelt, entwickelten aber früh autonome Strukturen.

1951, nachdem im Vorjahr die konservative Demokratische Partei an die Macht gekommen war, wurden sie als „Zentren kommunistischer Aktivitäten“ verboten. 1963, in einem verhältnismäßig demokratischem Klima, konnten sie als unabhängige demokratische Massenorganisation wieder aktiv werden. Im Rahmen ihrer Kultur- und Bildungsarbeit wurden sie in den 1960er Jahren zu einem wichtigen Anlaufpunkt für aufsteigende anti-imperialistische Jugend- und Arbeiterbewegungen, in den 1970ern waren sie Zentren des antifaschistischen Kampfes.

In den Jahren von 1932 bis 1951 existierten 478, und von 1963 bis 1980 rund 1000 Volkshäuser. Mit dem Militärputsch vom 12. September 1980 wurden sie erneut verboten und ihr gesamter Besitz beschlagnahmt. Der gegen sie im Zuge des Putsches eröffnete Prozess endete 1987 mit einem Freispruch, doch das beschlagnahmte Vermögen wurde nicht zurückerstattet. Mit diesen beschränkten Möglichkeiten stellten sich die Volkshäuser einmal mehr neu auf. 1987 führten sie ihre Arbeit in insgesamt 24 Filialen fort, davon 18 in Istanbul und 6 in Ankara.

„Der einzige Weg ist Revolution“

Die Volkshäuser waren es, die die neoliberale Agenda der AKP Anfang der 2000er Jahre erkannten und mit sozialistischen Erzählungen gegen diese mobilisierten. Es ging ihr dabei um den „Kampf für Rechte“, gemeint waren vor allem soziale Bedürfnisse wie Bildung, Gesundheit, Wohnen, Verkehr, Energie und Wasser, die nicht länger als Ware behandelt werden, sondern Allgemeingut werden sollten. Die Volkshäuser agierten gegen die Verdrängung von Arbeiter*innen in prekäre Arbeitsverhältnisse und gegen die Ausplünderung von Natur und Städten.

2011 wurde die Stadt Hopa an der Schwarzmeerküste zum Zentrum des Widerstands gegen die politökonomische Agenda der AKP-Regierung. Am 31. Mai besuchte Recep Tayyip Erdoğan auf Wahlkampftour die Stadt und wurde von den Einwohner*innen mit einem Plakat mit der Aufschrift „Der einzige Weg ist der Gang auf die Straße, der einzige Weg ist Revolution“ empfangen. Sie protestierten mit Slogans wie „Wir verteidigen unsere Bäche und unseren Tee“ gegen die von der AKP protegierten Wasserkraftwerke in der Region und wurden dafür von der Polizei mit Tränengas beschossen. Dabei erlag der pensionierte Lehrer Metin Lokumcu einem Herzinfarkt.

Daraufhin gingen in zahlreichen Städten Mitglieder der Volkshäuser auf die Straße, vor allem in Ankara und Istanbul, und marschierten zu den AKP-Büros. In der Hauptstadt wurden sie erneut von der Polizei attackiert. Bei diesen Protesten kletterte die heutige Ko-Vorsitzende der Volkshäuser Dilşat Aktaş auf ein Panzerfahrzeug der Polizei und hielt eine Ansprache. Im Anschluss wurde sie von Polizisten verfolgt, die sie offener Straße misshandelt und ihr den Hüftknochen gebrochen haben.

„Es ist es nur natürlich, dass Frauen an der Spitze stehen“

Im Januar 2018 restrukturierte eine außerordentliche Vollversammlung die Leitungsposition und wählte Dilşat Aktaş und Nuri Günay zu Ko-Vorsitzenden. Auch in den vorangegangenen fünf Wahlperioden vor Einführung eines Systems mit Ko-Vorsitzenden leiteten Frauen die Volkshäuser. Oya Ersoy, die Vorgängerin von Aktaş, sagt: „Wir sind eine Volksorganisation. Frauen stellen die Hälfte der Bevölkerung. Wir sind eine Organisation des Kampfes. Für Frauen gibt es viel mehr, worum sie kämpfen müssen, sie kämpfen mehr. Da ist es nur natürlich, dass Frauen an der Spitze stehen.“

Als unabhängiger, linksgerichteter Massenverband sind die Volkshäuser eine robuste Organisation, die mit ihrer Linie des „Kampfes für die Rechte des Volkes“ und ihrer Mobilisierung gegen die AKP ein positives Verhältnis zur Linken im Land unterhält. Gleichzeitig sind die Volkshäuser imstande, auch nicht dezidiert links geprägte werktätige Schichten zu erreichen.

Im Zuge der aktuellen Repressionswelle warf die Polizei den Volkshaus-Mitgliedern vor, Erdoğans Sieg im Wahljahr 2019 verhindern zu wollen. Die Volkshäuser streiten das gar nicht ab: Sie bemühen sich darum, unterschiedliche oppositionelle Kräfte auf der Basis der Prinzipien Gleichheit, Freiheit, Laizismus, Frieden und Patriotismus gegen eine Diktatur zu vereinen. Ihre Parole lautet „Wir können die Diktatur stoppen! Dieses Land gehört uns!“

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

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