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Türkische Polit-Girl-Band „Manifest“Bewegung als politischer Akt

Früher war die Türkei ein lebendiger Popraum. Heute soll Kunst unpolitisch und anständig sein. Die K-Pop–inspirierte Band Manifest macht da nicht mit.

Die Band Manifest: Gradmesser dafür, wie viel Freiheit das Land noch zulässt Foto: manifest

Sechs junge Frauen stehen auf der Bühne, schwarze Outfits, Leder, Netz, funkelnde Ketten. Sie tragen auffälliges Make-up, wischen sich den Schweiß von der Stirn, tanzen synchron, schwingen die Hüften ein letztes Mal zur Zugabe. Das Publikum im Istanbuler Küçükçiftlik-Park filmt, singt mit. Und am Ende skandieren sie gemeinsam: „Hak, hukuk, adalet!“ – Recht, Gesetz, Gerechtigkeit. Das Publikum kreischt, klatscht, pfeift.

So sieht Pop aus – modern, durchinszeniert, körperlich. Und so sieht das aus, was in einem islamisch geprägten, konservativen Land wie der Türkei, regiert von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, derzeit für Empörung sorgt.

Die Parole, die am Ende des Konzerts erklingt, ist längst mehr als ein Slogan. Seit der Inhaftierung des oppositionellen CHP-Bürgermeisters Ekrem İmamoğlu im März hallt „Hak, hukuk, adalet“ immer wieder durch türkische Städte – auf Demos, in Fußballstadien, auf Konzerten. Es ist ein Satz, der in einem Land, in dem die Justiz längst zur Sache der Regierung geworden ist, wie ein Widerspruch klingt. Und wenn ihn eine Girlband ruft, dann wird Pop endgültig politisch.

Manifest, so nennt sich die wohl auffälligste Girlband der Türkei – sechs Frauen Anfang zwanzig, die eine neue Form von türkischem Mainstream erfinden. Ihr Look ist bis ins Detail durchkomponiert: makelloses Make-up, glänzende Lippen, farblich abgestimmte Lidschatten, glattes oder in Pastelltönen gefärbtes Haar. Jede Bewegung sitzt, jedes Styling ist Teil einer präzisen Bildsprache, die sich an K-Pop orientiert – jenem globalen Popphänomen aus Südkorea, das Tanz, Mode, Musik und Selbstdarstellung zu einer perfekten Kunstform verdichtet hat.

Weniger Coolness, mehr Selbstbehauptung

K-Pop lebt von Kontrolle und Inszenierung – Choreografien wie Maschinen, Gesichter wie Kunstwerke, eine Ästhetik zwischen Hochglanz und Überforderung. Auch Manifest nutzt diese Sprache, übersetzt sie aber ins Türkische: weniger Idolkult, mehr Alltagsnähe, weniger Coolness, mehr Selbstbehauptung. Ihre Musik – t-Pop, wie sie das nennen – verbindet die polierten Beats des K-Pop mit türkischen Popmustern, mischt R’n’B, Dance und elektronische Einflüsse.

Für ihre Fans – vor allem junge Frauen – klingt das nach Aufbruch und Freiheit in einem Land voller Repressionen. Für die Kulturhüter des Landes nach Grenzüberschreitung. Denn hinter den Pastelltönen und Tanzschritten steckt mehr als Show: eine Generation, die sich auf der Bühne so zeigt, wie sie im Alltag oft nicht darf.

Nach ihrem Konzert im September eröffnete die Staatsanwaltschaft Istanbul ein Verfahren gegen die Band. Der Vorwurf: „unanständige Bewegungen“, Verletzung der öffentlichen Moral – kurz: zu viel Körper.

In der Türkei heißt das hayasızca hareket und kann mit bis zu einem Jahr Haft bestraft werden. Videos ihres Auftritts wurden blockiert, die Musikerinnen dürfen das Land vorerst nicht verlassen. In regierungsnahen Medien nennt man sie „schamlos“, „unmoralisch“, ein „schlechtes Vorbild“ – vor allem für die Mädchen, die ihnen zujubeln.

Verfahren selbst als Teil der Strafe

Inzwischen hat das Istanbuler Strafgericht die Anklage offiziell angenommen. Für jedes Mitglied fordert die Staatsanwaltschaft eine Haftstrafe zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Noch ist kein Urteil gefallen, doch die Band steht unter Beobachtung – auch juristisch. Eine Haftanordnung gibt es bislang nicht, die Frauen sind auf freiem Fuß, dürfen das Land aber nicht verlassen. Die Ermittlungen laufen weiter, und wie so oft in der Türkei ist das Verfahren selbst schon Teil der Strafe.

Dahinter steckt mehr als Prüderie. In einem Land, in dem Frauen im öffentlichen Raum selten laut, sichtbar oder unverhüllt auftreten sollen, ist jede Bewegung auf einer Bühne ein politischer Akt. Die Türkei unter Präsident Erdoğan hat Frauen in den letzten Jahren systematisch aus der Öffentlichkeit gedrängt – erst leise, dann offen. Von feministischen Demonstrationen, die verboten werden, bis zu Gerichten, die Täter freisprechen, während sie Opfer belehren: Das Land kennt viele Regeln dafür, wie Frauen sich zu benehmen haben – aber immer weniger Rechte, sie zu brechen.

In dieser Gesellschaft soll die Frau dezent sein, verschleiert, sittsam, am besten still. Nicht auffällig, nicht tanzend, und schon gar nicht bauchfrei auf einer Bühne. Manifest tut genau das Gegenteil. Ihre Outfits sind knapp, ihre Bewegungen zu „sexy“, sie fordern Raum – und provozieren damit all das, was das konservative Ideal von Weiblichkeit in der Türkei nicht aushält.

Dass der Staat nun wegen „unanständiger Bewegungen“ gegen sie ermittelt, sagt weniger über ihre Choreografien als über den Zustand des Landes aus. Hier entscheidet nicht mehr das Gericht, was unanständig ist, sondern das Gefühl der Macht, sich bedroht zu sehen.

Sobald Frauen es laut sagen

Denn Manifest hat Fans. Viele davon sind zwischen zehn und fünfzehn, sie kennen jede Choreografie, posten Tanzvideos auf Tiktok, kopieren die Looks, nennen sich „Manifesters“. Eine Girlband, die in der Türkei ein Publikum aus so jungen Mädchen begeistert – und ihnen sagt, dass sie laut sein dürfen, stark, bunt und auch politisch –, das ist für Erdoğans Kulturhüter offenbar schon Revolution genug.

Dabei ist die Band keine politische im klassischen Sinne. Ihre Songs handeln nicht von Macht oder Regierung, sondern von Nähe, Freundschaft, Verletzlichkeit, vom Versuch, sich selbst treu zu bleiben und manchmal auch von „Cash“, wie sie in einem ihrer Songs das Geld verdienen nennen. Pop also, im klassischen Sinn – leicht, tanzbar, emotional. Aber in der Türkei wird selbst das politisch, sobald Frauen es laut sagen.

Die Türkei ist ein Land, welches sich unter Präsident Erdoğan seit mehr als 20 Jahren kulturell verengt. Festivals werden verboten, Filme zensiert, Musiker:innen vor Gericht gezerrt. Was früher ein lebendiger Popraum war, wird heute Schritt für Schritt moralisch vermessen. Kunst soll gefällig sein, unpolitisch, anständig – und vor allem nicht zu frei.

Der Sänger Mabel Matiz etwa steht ebenfalls vor Gericht wegen „Obszönität“ – sein Song „Perperişan“ sei zu freizügig, seine Videos zu provokant. Der queere Popstar darf vorerst nicht reisen. Auch Künstler:innen wie Gaye Su Akyol oder Ezhel, die inzwischen in Berlin leben, gerieten in den vergangenen Jahren ins Visier der türkischen Behörden, weil sie zu offen, zu kritisch oder schlicht zu sichtbar waren.

In dieser Atmosphäre ist Pop längst keine harmlose Unterhaltung mehr, sondern ein Gradmesser dafür, wie viel Freiheit das Land noch zulässt. Der Sound von Manifest wirkt da in Istanbul plötzlich wie ein Fremdkörper: zu westlich, zu selbstbewusst. Doch genau das ist sein Reiz – und seine Gefahr. In einem Land, in dem schon Tanzen als Provokation gilt, wird jeder Beat zum politischen Statement.

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