Türkische Opposition: Wohin die Reise geht
Mit dem Rücktritt des Generalstabs ist der Konflikt zwischen Armee und Regierung entschieden. Doch ist es auch ein Schritt zur Demokratie? Vier Statements von oppositionellen Intellektuellen.
Mehr Demokratie
Der Rücktritt des Generalstabs eröffnet den Weg für die überfällige Reform des türkischen Militärs. Für eine Islamisierung von Staat und Gesellschaft hingegen gibt es keine Indizien; das ist nichts als auf Unwissenheit beruhende Unterstellung.
Im Gegenteil, die Türkei hat in den vergangenen zehn Jahren wichtige Schritte in Richtung einer Demokratisierung nach westlichem Vorbild unternommen. Nicht dass wir am Ziel wären, aber wir sind schon einen weiten Weg gegangen. Im Übrigen ist es in einer Demokratie nicht Sache der Armee, eine Regierung zu kontrollieren, sondern allein Sache der parlamentarischen Opposition und der demokratischen Öffentlichkeit.
Lale Kemal, Ankara-Korrespondentin der linksliberal-armeekritischen Tageszeitung "Taraf"
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Stalingrad war schon
Das türkische Militär hat sein Stalingrad im 2007 erlebt, als es vergeblich versucht hat, die Wahl von Abdullah Gül zum Staatspräsidenten zu verhindern. Seine Macht ist gebrochen; alle Konflikte seither sind nicht mehr als Rückzugsgefechte.
Die AKP verfolgt keine heimliche Agenda zur Errichtung einer islamischen Gesellschaft. Sie ist eine konservative Partei, bei der der religiöse Faktor vielleicht eine etwas größere Rolle spielt als bei den deutschen Christdemokraten. Natürlich hätte sie gern eine Militärführung, die ihr nähersteht. Um mehr geht es nicht.
Allerdings versucht die AKP, ihren Einfluss auf alle gesellschaftlichen Bereiche - staatliche wie zivile - auszudehnen. In der Türkei werden immer noch politische Konflikte werden nicht so sehr als Wettbewerb um die Gunst der Öffentlichkeit verstanden, der politische Gegner wird oft feindselig behandelt. Dieser Tradition folgend, versucht auch die AKP, ihre politischen Gegner klein zu halten. Das wird sie in Zukunft in noch dreisterer Weise versuchen, und genau das - und nicht eine Islamisierung - ist für alle, die eine Demokratisierung der Türkei wollen, ein Problem.
Ömer Laçiner, 64, als Offizier 1971 aus der Armee suspendiert, drei Jahre Haft, seit 1989 Chefredakteur der linken Theoriezeitschrift "Birikim"
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Zweischneidige Sache
Wir haben eine schrittweise Entwicklung zu mehr Demokratie erlebt. Zugleich gibt es eine Entwicklung hin zu einer vielleicht nicht islamischen, aber doch konservativeren Gesellschaft.
Mir erscheint es zum Beispiel merkwürdig, dass Kinder unter zwölf Jahren nun Korankurse besuchen können. Oder dass der Ministerpräsident versucht, den Frauen vorzugeben, wie viele Kinder sie auf die Welt setzen sollen, oder darüber sinniert, ob eine protestierende Studentin noch Jungfrau ist. Wie freiheitlich eine Gesellschaft ist, lässt sich am besten an der Stellung der Frauen ablesen. Und in der Türkei wird die Frauenfrage nicht gelöst; die Dinge verhärten sich eher, als dass sie sich zum Besseren wenden.
Hatice Meryem, 42, Schriftstellerin. Ihr Erzählband "Hauptsache ein Ehemann" erschien in diesem Jahr bei Orlanda auf Deutsch
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Journalisten in Haft
Es ist natürlich gut für die Demokratie, wenn sich das Militär nicht länger in die Politik einmischt. Denn eine Demokratie kann sich nicht auf die Armee, sondern muss sich auf das Volk stützen.
Doch zugleich gibt es in der Türkei Druck auf die Presse; etliche Journalisten, darunter unser Kollege Mustafa Balbay, sitzen seit Jahren in Haft, ohne dass ihnen ein rechtsstaatliches Verfahren gemacht würde; es gibt Versuche, die Justiz unter politische Kontrolle zu bringen. Solange es diese Dinge gibt, kann von einer Demokratisierung keine Rede sein. Zwar wäre es übertrieben, zu sagen, dass der Türkei die Scharia droht, aber die Religion spielt im öffentlichen Leben eine immer größere Rolle. Auch das ist besorgniserregend.
Güray Öz, 61, verantwortlicher Redakteur der linkskemalistischen Tageszeitung "Cumhuriyet", lebte nach dem Putsch 1980 lange Zeit in Deutschland
Aufgezeichnet von DENIZ YÜCEL
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