■ Türkei: Das Militär mobilisiert gegen Kurden und Islamisten: Marschbefehl erteilt
Seit Wochen war in der politischen Szene der Türkei spekuliert worden, wie das Militär auf die bevorstehenden Wahlen im April reagieren würde. Jetzt wurde der Marschbefehl erteilt. Am Donnerstag tagte der Nationale Sicherheitsrat und beendete das Rätselraten: Verbotsantrag gegen die kurdische Hadep und eine Änderung des Wahlsystems mit dem Ziel, die islamische Fazilet zu schwächen.
Es ist ein offenes Geheimnis, daß die selbsternannten Hüter der kemalistischen Republik die Wahlen im April am liebsten ganz abgesagt hätten. Da das ohne direkte Intervention kaum noch möglich schien, sollen nun die Rahmenbedingungen so gestaltet werden, daß möglichst das richtige Ergebnis herauskommt. Die Chancen der prokurdischen Hadep, die sowieso demokratiefeindliche Zehnprozenthürde zu überspringen, waren nie groß. Nachdem nun während des Wahlkampfes gleichzeitig vor dem Verfassungsgericht über ein Verbot der Partei verhandelt wird, kann man wohl davon ausgehen, daß außer dem harten Sympathisantenkern für die Partei nichts zu holen ist.
Weit schwieriger ist es, die ungleich stärkere islamistische Bewegung auszubremsen. Die Nachfolgeorganisation der verbotenen Refah, die Fazilet, liegt bei den meisten Meinungsumfragen an erster oder zweiter Stelle aller Parteien. In den beiden größten türkischen Städten, in Istanbul und Ankara, stellt die Fazilet den Bürgermeister. Mit einem zweistufigen Wahlsystem soll jetzt die Möglichkeit geschaffen werden, die Islamisten in den Stichwahlen gegen Mehrparteienkoalitionen auflaufen zu lassen.
Man sieht, das türkische Militär hat dazugelernt. Statt plumper Putschdrohungen bietet der Nationale Sicherheitsrat jetzt ausgefeilte Demokratiemodelle. Das Ergebnis ist jedoch immer dasselbe. Die beiden größten vom Kemalismus abweichenden gesellschaftlichen Strömungen, der politische Islam und die sich selbst als ethnische Minderheit definierenden Kurden, werden kriminalisiert statt politisch integriert. So wird die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben, bis es zum offenen Bruch kommt.
Es ist das Drama der türkischen Demokratie und der meisten türkischen Politiker, daß sie bei Strafe des eigenen Untergangs vom Militär immer wieder in gesellschaftliche Konfrontationen gezwungen werden, die der demokratischen Entwicklung enorm schaden. Es gehört zu den Widersprüchen dieser Gesellschaft, daß die meisten Türken das wissen und trotzdem das Militär die angesehenste Institution des Staates ist. Freiheit ist eben auch ein Risiko. Jürgen Gottschlich
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