Tübingen - Nekropolis des Südens

■ Oder: was verbindet Dornröschen, John McLaughlin, Hölderlin, Max Ernst, John Belushi und Jürgen Zielinski?

Wenn du als junger Mensch das Pech hast, in Tübingen zu leben, dann haben sie dich echt am Arsch. Dann hast du nichts zu lachen, du sitzt in der Falle. Tübingen ist absolut irreal. Eine Stadt aus einem alten vergilbten Märchenfilm. Hier triffst du sie alle: Das häßliche Entlein, den Zinnsoldaten, Frau Holle und den dicken, fetten Pfannekuchen. Sie leben in schnuckeligen kleinen Häuschen in niedlichen Gäßchen. Sie trinken ihren Wein und ihr fades Bier in winzigen Gaststätten und Cafes. Ihre Kleidchen kaufen sie in drolligen, total überteuerten Boutiquen und über allem trohnt Schloß Hohentübingen, Dornröschens Märchenschloß. Nur leider hat hier keiner die Braut wachgeküßt.

Es liegt kein Grauschleier über der Stadt, die Parks sind gepflegt, der Wald lebt, und Gastarbeiter gibt es auch nur ganz wenige. Die Einheimischen sind alle äußerst gelassen. Kein Lärm, keine Hektik, kein Streß. Langsames Leben ist langes Leben. Es kann allerdings der Verdacht aufkommen, daß die meisten Menschen hier einfach nicht an ein Leben vor dem Tode glauben. Alles ziemlich nett, alles sehr, sehr schön, alles stinklangweilig!

Die Studenten (ca. 25.000) sind völlig harmlos. Okay, manchmal demonstrieren sie auch, und man munkelt, daß sie sogar Häuser besetzt haben sollen, für eine halbe Stunde oder so. Aber der Großteil von ihnen ist zahn-, saft-, und kraftlos. Jedes Jahr im Frühling veranstaltet ihr „Club Voltaire“ das „Tübinger Festival“. Dann kommen die ganzen Müslis, Landfreaks und Hippies aus der Umgebung in die Stadt und machen mächtig einen drauf. Sie verkaufen Batikhemdchen und Haschischpfeifchen. Sie lesen „Walden oder Leben in den Wäldern“ im Orginal, und sie sitzen überall in den Gassen herum und singen zu ihren akustischen Gitarren Lieder von Joan Baez, Bob Dylan und manchmal sogar von Neil Young. Jaa, und abends Workshops und Konzerte. Der Star in diesem Jahr war John McLaughlin. Mein Gott, erinnert ihr euch noch an Mystik-Johnny und sein „Mahavishnu Orchestra“? Mann, das waren Zeiten. McLaughlin immer grinsend und einen blöden Spruch auf den Lippen. Ungefähr so: „Stille ist Ausdruck des Unaussprechlichen, dann, nach der Stille das Unaussprechliche auszudrücken, das ist Musik.„ So einer ist das. Der Typ paßt zu Tübingen wie Rambo zu Hollywood. Die haben schon ein feines Gespür, die Leute vom „Club Voltaire“.

Ah Tübingen, Stadt der Dichter und Denker. Hier soff Hegel mit Schelling, hier starb Bloch, hier verblödete Hölderlin. Okay, okay eigentlich verblödete er ja schon in Bordeaux, aber in Tübingen haben sie ihm den Rest gegeben. Die ganze Stadt lebt von ihren toten Dichtern und Denkern. Apropos Bloch: Irgendjemand müßte Robert Bloch mal einen Tip geben. Wenn der eine Geschichte über Tübingen machen würde, könnte er den Erfolg, den er mit „Psycho“ hatte, leicht wiederholen.

Nachtleben? Nix da! Punkt Mitternacht ist Sense! Dann werden die Bürgersteige hochgeklappt. Man verläßt frustriert die Kneipe oder Disco (die hier bezeichnenderweise „Zoo“ heißt) und wundert sich, daß man unterwegs keinen Nachtwächter trifft, der mit seiner Laterne durch die Straßen wankt und „Hört ihr Leut‘ und laßt euch sagen...„ kräht. Stattdessen kann es einem passieren, daß man anderen, bedeutend schauerlicheren Kreaturen aus längst vergangenen Zeiten begegnet: Aktive Mitglieder der „Schlagenden Verbindungen“ schleichen in vollem Wichs durch die Nacht. Tagsüber bekommt man diese lichtscheuen Geschöpfe kaum zu Gesicht. Manchmal kann man sie allerdings bei ihrem blöden Lieblingssport, dem Stocherkahnfahren auf dem Neckar beobachten. Sie wohnen in den schönsten Villen am Österberg (auf der anderen Seite grasen die Schafe) und außerhalb der Stadt. Dort genießen sie ihr anstrengendes Studentenleben, daß Papa, der Manager bei Mercedes oder der Deutschen Bank ist, ihnen finanziert.

Die jungen Leute hier haben einfach keinen Stil. Selbst die Selbstmörder stürzen sich von den tristen Betontürmen der grauen Vorortsiedlung Waldhäuser Ost. Die Kollegen aus Berlin benutzen immerhin das Le Corbusier-Haus. Das aufregendste an Tübingen scheint noch der „Sex Shop“ zu sein, allerdings heißt er hier „Institut für Ehehygiene“.

Ja, die dunkle Seite des Mondes. Aber wenn ihr jetzt glaubt, in Tübingen gehe es ungefähr so lustig zu wie in der Kalahari, dann habt ihr euch geschnitten. Es gibt Oasen. Die Wüste lebt.

So gibt es nicht nur Eierköpfe in Tübingen, nein, auch richtige, lebendige Menschen. Die Berber kann man bei schönem Wetter auf den Stufen der Stiftskirche bewundern. Die wenigen Arbeitslosen und Alkis trifft man bei jedem Wetter in der Hähnchenbraterei eines großen Einkaufszentrums in der Südstadt. Die Asylanten hausen bis zu ihrer Abschiebung in einer alten Kaserne und manchmal, aber wirklich nur ganz selten, sieht man sogar einen Punk. Die schärfste Kneipe der Stadt ist eigentlich gar keine. Der „Blaue Salon“ im ehemals besetzten Haus (früher das Hauptquartier der Polizei) in der Münzgasse ist nicht öffentlich, „nur für Hausbewohner“ droht ein Schild an der Eingangstür.

Zu den echten Highlights der Stadt gehört die „Kunsthalle“, die immer wieder mit ausgezeichneten Ausstellungen auffällt. Zur Zeit läuft gerade (bis zum 27.11.) die Max Ernst Ausstellung „Collagen. Inventar und Widerspruch“. Und dann natürlich das „Landestheater Tübingen“ (LTT). Das „Große Haus“, das sog. Erwachsenentheater kannst du getrost vergessen, es reiht sich nahtlos in die tristen Etablissements der Stadt ein. Aber das kleine freche Kinder und Jugendtheater wehrt sich vehement gegen die schwäbische Eintönigkeit und macht immer wieder mit interessanten Eigenproduktionen auf sich aufmerksam. Am 24.9. war die Premiere ihrer Tourismus-Revue „Die Sonne und Du“. Während draußen auf den Tübinger Kleinstadtstraßen alles sauber und geordnet zugeht, herrscht in diesem Stück das totale Chaos. Der Mann, der diesen Heidenspaß verbrochen hat, heißt Jürgen Zielinski, ein Wiederholungstäter. Herausgekommen ist eine musikalische Revue zwischen Survival-Camp und Action-Club, zwischen Sonnenbrand und Ozonloch. Die Show ist voller böser, bissiger Witze und gemeiner Sketche („Gib dem Neger mal ein Bonbon...“). Nun gut, es gibt auch total flache Gags, wie z.B. die Modenschau mit Strandgut-Kleidern, einer von jenen Witzen, die dem Variete das Genick gebrochen haben. Die Handlung? Es gibt keine. Das Stück hat keinen Anfang und kein Ende. Dazwischen versucht man die hektische Atmosphäre eines Fernsehstudios zu vermitteln, in dem eine Live-Show über Jugendtourismus aufgezeichnet wird. Die schauspielerischen Leistungen reichen von „nicht vorhanden“ bis „ausgezeichnet“. Einige der SchauspielerInnen agieren wie matte Novemberfliegen, aber die meisten der Truppe sind mit Feuereifer bei der Sache. Positiv aufgefallen ist Theresa Berlage, obwohl sie mit der Rolle der TV-Moderatorin eindeutig unterfordert war. Dann natürlich der irre Komiker Klaus Cofalka-Adami. Kennt ihr „1941“ von Spielberg? Da gibt es diese verrückten Szenen, in denen der große kleine fette John Belushi alias „Wild Bill Kelso, United States Army Air Corps“ mit seiner schrottreifen P40-Warhawk mitten über San Francisco nicht vorhandene japanische Feindflugzeuge jagt. Cofalka-Adami erinnert in Mimik und Gestik stark an Belushi, ohne diesen allerdings zu kopieren (hey Cofalka, verschwinde endlich aus Tübingen und werde ein Star!).

Die Texte der Songs (z.T. von den beiden deutschen Udos und der einzigen deutschen Nena geklaut) waren manchmal dank der Technik schlecht zu verstehen. Die Dramaturgin Regina Weidele versaute ihr Saxophon-Solo - aber wie! Frau Weidele, ich liebe sie für dieses miese Solo! Dieses schräge Sax-Solo und die tolle Truppe des LTT sind es denn auch, die Tübingen um den Ruf, die langweiligste Stadt Deutschlands zu sein, gebracht haben. Den ersten Platz belegt immer noch Münster in Westfalen.

Karl Wegmann