: Tschetschenischer Schwejk
■ Tschetschenische Schauspieler erinnern mit Tournee an die Kriegsgräuel in der Heimat / Spielend haben sie neuen Mut gefasst und Geld für einen Neuanfang gesammelt
Rouslan Chakischew sieht müde aus. Die neuntägige Blitztournee durch Deutschland hat Kraft gekos-tet. Aber die Aktion setzt auch neue Kräfte frei: Sie soll der Auftakt sein für eine Neugründung von Grosnys „Großem Dramatischem Theater“ im Exil. Das Renommiertheater der tschetschenischen Hauptstadt ist nach 1994 nun schon zum zweiten Mal ausgebombt worden. Gerade hatte das Ensemble von Chefregisseur Chakischew den Spielbetrieb wieder aufgenommen, da bliesen russische Truppen erneut zum Sturm auf Grosny. Wie fast alle Zivilisten flohen die Schauspieler aus der Stadt. Chakischew hat sie in den Flüchtlingslagern der Nachbarrepubliken wiedergefunden und in Tscherkessk versammelt. Allerdings waren sie vom Krieg schwer gezeichnet, unterernährt und zum Teil verletzt. Den Theaterfundus hatten sie ebenso verloren wie ihre private Habe. Dennoch dachten sie an nichts anderes als an einen Neubeginn ihres Theaters. Einerseits wollten sie so zumindest die Kultur ihres zerstörten Landes retten, andererseits fanden sie in ihrer Arbeit Ablenkung von den Gräueln des Krieges. So begannen sie abends auf den Fluren des Krankenhauses von Tscherkessk wieder mit den ersten Proben. „Wir haben zwar alles verloren“, sagt Chakischew, „aber so lange die Schauspieler leben, lebt auch das Theater.“
Die Einladung nach Deutschland war eine zusätzliche Motivation. In Berlin, Mülheim, Stuttgart und der Bremer Shakespeare-Company konnten neun SchauspielerInnen des Ensembles endlich wieder spielen. Mit einem Programm aus folkloristischen Szenen und Nikolai Gogols Stück „Die Familie“ wollten sie hier auch auf die verzweifelte Lage in ihrer Heimat aufmerksam machen. Dafür gingen sie weit über die eigenen Grenzen: Ein Akteur hat noch Bombensplitter in Kopf und Körper. Bei dem 61-jährigen Mousa Dudajew fordern die Strapazen des Krieges nun ihren Tribut: Er erlitt einen leichten Herzinfarkt. Vor kurzem hat er durch einen Bombentreffer seine Familie verloren, direkt vor der Abreise starb sein Bruder.
Auch er selbst wäre dem Krieg beinahe zum Opfer gefallen: Russische Soldaten nahmen Dudajew nur deswegen von der angeordneten Erschießung aus, weil sie ihn aus einem Film kannten. Als er freigelassen wurde, hielten die Rebellen ihn zunächst für einen Spion. Sie ließen ihn schließlich gehen, weil er den gleichen Nachnamen wie der Präsident trägt. „Mousa hat sich wie der Soldat Schwejk durch die Frontlinien geschlagen“, sagt Regisseur Chakischew. Nun klammert sich Dudajew an die Arbeit für das Theater. Trotz seines Herzinfarkts will er aber beim besten Willen nicht ins Krankenhaus: „Ich muss durchhalten.“
Wenn es heute über Moskau zurück geht, wird die Truppe ein wenig Startkapital für einen Neuanfang mitbringen: Einen Teil konnten sie mit ihrer improvisierten Kurztournee selbst einspielen. Dazu kommt die Unterstützung anderer Theater in den Gaststädten. Beispielsweise sammelten alle Bremer Theater am vergangenen Sonnabend Spenden unter ihren ZuschauerInnen. Da die Flüge vom Auswärtigen Amt bezahlt wurden, wird ein wenig Geld übrig bleiben für den Neuanfang in Tscherkessk. Repressalien der Behörden fürchtet Chakischew in der russischen Teilrepublik nicht: „Wir werden spielen was wir wollen. Die Zensur hat in Russland heute nicht mehr die Bedeutung wie vor 20 Jahren.“ Er glaubt auch, dass der gute Ruf sein Theater schützen wird. Das erste Stück steht bereits fest: Mit Brechts Mutter Courage wollen die Flüchtlinge ihre Kriegserfahrungen verarbeiten.
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Spenden an: Cap Anamur, Kto.-Nr. 529 555 300, BLZ: 371 600 87, Stichwort: Hilfe für Dramatisches Theater Grosny
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