Tschechien ohne Vaclav Havel: Eine verwaiste Nation
Das ganze Land trauert um den am Sonntag verstorbenen früheren Präsidenten Havel. Die Regierung will seine Verdienste mit einem Gesetz würdigen.
PRAG taz | Auf dem Prager Wenzelsplatz brennt ein Meer von Kerzen. Über dem Standbild des heiligen Wenzel (Václav), des tschechischen Schutzpatrons, hängt ein schwarzer Trauerflor. Immer mehr Menschen kommen an diesem vierten Adventsabend auf dem Wenzelsplatz zu einer spontanen Gedenkveranstaltung für Václav Havel zusammen.
Punkt 18 Uhr läuten im ganzen Land die Kirchenglocken. Als wollten sie Václav Havel auf seinem Weg begleiten. Der tschechische Expräsident war am Sonntagmorgen in seinem Haus in Hradecek am Fuße des Riesengebirges im Alter von 75 Jahren gestorben. Friedlich und im Schlaf, ließ seine Familie die Nation wissen.
Und die trauert. Als auf dem Wenzelsplatz das Lied "Modlitba pro Martu" (Gebet für Marta) ertönt, die inoffizielle Hymne des tschechoslowakischen Dissenses, beginnen die Menschen zu weinen. Eine Gruppe junger Männer hat eine riesige tschechische Flagge über die Trauernden gezogen. "At zíje Havel", ertönte es plötzlich aus der Menge. "Lang lebe Havel".
Doch kaum einer stimmt ein. Zu gedrückt ist die Stimmung. Stattdessen stimmt ein anderer die tschechische Nationalhymne an: "Kde domov muj" - Wo ist meine Heimat. Der Tod Václav Havels hat selbst diejenigen getroffen, die zu Lebzeiten seine, wie er sie nannte, "apolitische Politik" kritisiert hatten. "Wir sind jetzt alle irgendwie zu Waisen geworden", sagt ein Mann. Tränen stehen ihm in den Augen.
"Václav Havel geht nicht weg", titelt die tschechische Tageszeitung Mladá fronta DNES das Lebenscredo des verstorbenen Präsidenten. Es soll sein Vermächtnis bleiben. am Montag. Wie alle tschechischen Zeitungen ist auch sie am Tag 1 nach Havel mit einem schwarz-weißen Titelbild erschienen. "Liebe und Wahrheit werden siegen über Hass und Gewalt", zitiert das Blatt
Kein Gesetz, um Václav Havel zu ehren
Die Verdienste Havels um den tschechischen Staat sollen per Gesetz gewürdigt werden, plant unterdessen die tschechische Regierung. "Präsident Havel war ein Symbol der positiven gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Veränderungen nach 1989. Er hat sich enorm um die Tschechische Republik verdient gemacht. Unter anderem auch dadurch, dass er nicht gezögert hat, in Zeiten des Totalitarismus im Namen der Demokratie und Menschenrechte aufzustehen, und sich dafür Verfolgung und Gefängnis ausgesetzt hat", sagte Tschechiens Ministerpräsident Petr Necas in seiner Trauerbotschaft.
Doch das tschechische Volk braucht kein Gesetz, um Václav Havel zu ehren. Seit dem frühen Montagmorgen stehen die Leute vor der "Kirche der heiligen Anna" in der Prager Altstadt Schlange. Dort ist der Leichnam Václav Havels aufgebahrt. Noch bevor die Kirche geöffnet wurde, hatte sich eine so riesige Menschenmenge versammelt, sodass die Polizei die angrenzende Straße für den Verkehr sperren musste.
Alle wollen sich von Václav Havel verabschieden, der auch nach Ende seiner Amtszeit für viele ihr Präsident geblieben war. Unter ihnen auch der Prager Oberbürgermeister Bohuslav Svoboda. "Auch wenn er zu erwarten war, so trifft uns der Tod Václav Havels völlig unvorbereitet. Wir haben darauf gesetzt, dass er hierhergehört, in diese Welt", sagte Svoboda mitgenommen.
Ruhig und respektvoll warten Menschen, von kleinen Kindern bis hin zu Greisen, stundenlang in der winterlichen Kälte, um sich vor dem Sarg des Staatsmannes zu verbeugen. Am Freitag vor Heiligabend wird Václav Havel in Prag seine letzte Reise antreten. Es wird ein Staatsbegräbnis geben. Die letzte Ehre, die ihm der Staat, den Václav Havel mitgeprägt hat, erweisen kann.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen