■ Trotz Moruroa und einer starken sozialen Protestwelle hat Jacques Chirac in seinem ersten Jahr an Profil gewonnen: Der Bürgerpräsident
Wie schnell die Zeit vergeht: Vor nicht einmal vier Monaten war Jacques Chirac einer der weltweit bestgehaßten Politiker. Niemand konnte so viele Demonstrationen gegen sich, so viele negative Leidenschaften und so viele feindliche T-Shirts auf seinem Haben-Konto verbuchen. Niemand im Klub der Großen galt als so unberechenbar und als so gefährlich für das internationale friedliche Miteinander. Mit der Wiederaufnahme der Atomtests rechtzeitig zum 50. Jahrestag der Hiroshima-Bombe hatte es der neugewählte Staatspräsident geschafft, sich international ins Abseits zu manövrieren und gleichzeitig Frankreichs Weltmachtanspruch zu bestätigen.
Dann kam der Januar. Chirac erklärte im französischen Fernsehen „eine der ersten wichtigen Aufgaben“ seiner Amtszeit für erledigt. So wie ein Patient eine schwierige, aber unvermeidliche Operation hinter sich bringt, hatte er die letzte Atomtestserie seines Landes abgeschlossen. Stoisch hatte er allen Protesten die Stirn geboten und die vorsichtige Kritik aus dem Lager der Verbündeten diplomatisch böse sanktioniert. Statt der geplanten acht hatte er zwar „nur“ sechs Bomben im Südpazifik gezündet, aber damit war nach seiner Lesart dennoch das Ziel erreicht: Frankreich hatte seine nationale Sicherheit und Souveränität langfristig garantiert.
Seither ist der Präsident wie ausgewechselt. Hatte er schon im Dezember versucht, sich einen Teil des Verdienstes um das Dayton- Friedensabkommen für Bosnien anzuheften, als er die Unterzeichnung in Paris ausrichtete, so legte er ab Januar international erst richtig los. In Windeseile mutierte er zum Atomtestgegner, zum internationalen Abrüstungsbefürworter, bekannte sich deutlich zur Europäischen Union und leitete Frankreichs Rückkehr in den inneren Kreis der Nato ein. Im Nahen Osten versuchte sich Chirac mit seinem Außenminister Hervé de Charette sogar als Friedensstifter.
Diese Politik des „Affront zuerst“ praktizierte Chirac auch nach innen. Der Präsident, der sich mit einem Programm gegen die fracture sociale hatte wählen lassen, wartete nicht einmal ein halbes Jahr, bevor er eine 180-Grad- Wende vollzog. Im Oktober erklärte er – ebenfalls im Fernsehen – den Kampf gegen das nationale Defizit zur ersten Priorität und machte die Austeritätspolitik zum Programm. Er habe die finanziellen Probleme des Landes unterschätzt, begründete der Mann, der seit Jahrzehnten Spitzenpositionen besetzt und mehrere Anläufe auf die Präsidentschaft hinter sich hatte. Die versprochenen Steuersenkungen und sozialen Verbesserungen verschob er auf 1998.
Wenig später wechselte er das Kabinett seiner Regierung aus, das anfangs als „besonders jung und besonders weiblich“ beeindruckt hatte. Von zwölf Frauen blieben nach der Umbildung vier übrig. Der Technokrat Alain Juppé allerdings, das Alter Ego des jovialen Präsidenten, durfte Premierminister bleiben. Direkt anschließend veröffentlichte die Regierung das rigorose Sparprogramm für Renten, Krankenversorgung und Sozialversicherung, das die Dezemberstreiks auslöste – die längsten und härtesten sozialen Proteste der letzten 25 Jahre.
Wieder bot Chirac stoisch allen die Stirn. Statt sich in das soziale Geschehen einzumischen, schickte er seinen Premierminister vor. Während auf den Straßen Frankreichs von bis zu zwei Millionen Menschen der Rücktritt Juppés gefordert wurde, bereiste der Präsident Afrika. Erst nach wochenlangem Schweigen erklärte er in einer kurzen Ansprache aus dem fernen Benin seine Unterstützung für die Regierung. „Ich weiß, daß der Weg schwierig ist“, sagte er. „Wir brauchen Mut und Zeit für die Sanierung. Wir verfügen über beides.“
Wenige Wochen später starb François Mitterrand. Und Chirac – der den Höhepunkt seiner Unpopularität erreicht hatte – reifte binnen weniger Stunden vom Präsidentenlehrling zum ausgereiften Präsidenten. Mit seiner Ansprache auf den Verstorbenen – wieder im Fernsehen – in der er „Respekt für den Staatsmann“ und „Bewunderung für den Privatmann“ äußerte und sein vielschichtiges Verhältnis als politischer Gegner, Premierminister und Nachfolger Mitterrands beschrieb, trat er selbst aus dem Schatten des Vorgängers. Im Gegensatz zum späten Mitterrand verfügt Chirac seit Beginn seiner Amtszeit über eine starke institutionelle Position. Die Parteien, die seine Präsidentschaft tragen, verfügen frankreichweit über stabile Mehrheiten – vom Senat über die Nationalversammlung bis in sämtliche regionale Gremien hinein. Eine Opposition, die man auch wahrnimmt, ist ein Jahr nach seiner Wahl nicht in Sicht. Wenn Chirac politisch dennoch schwach erscheint, liegt es weniger an Anfechtungen von außen als an den widersprüchlichen Tendenzen in seinem eigenen Lager.
Trotz Moruroa-Effekt und sozialer Proteste, trotz höherer Arbeitslosigkeit und zusätzlicher Steuern hat Chirac sich in den vergangenen zwölf Monaten ein eigenes präsidiales Profil als Präsident geschaffen. Wie all seine Vorgänger der V. Republik hält er sich aus den Niederungen der Tagespolitik heraus. Zugleich setzt seine Amtsführung sich von dem republikanischen Pomp der Mitterrand-Ära ab. Die Trottoirs rund um den Elysée-Palast, die Chirac in einem ersten Anflug von Transparenz geöffnet hatte, sind zwar seit der Attentatswelle vom vergangenen Sommer wieder für die Öffentlichkeit gesperrt. Doch ist Chirac dennoch ein Bürgerpräsident geworden – einer, der sowohl mit Intellektuellen wie mit Arbeitern kann, mit Alten und mit Jungen. Ein Präsident nach dem Geschmack der Franzosen.
Chirac ist zugleich der erste Präsident einer neuen Generation. Der erste, der eine „kollektive Verantwortung“ für das Regime von Vichy anerkannte. Der erste, der eine neue europäische Ordnung anvisieren kann. Und der erste, der sich traute, mit der Abschaffung von Militärdienst und der Sanierung des militärisch-industriellen Komplexes die große französische Armee anzutasten. Chirac hat die ersten Monate seiner Amtszeit genutzt, um die unpopulärsten und langfristigsten Projekte anzustoßen, auch wenn er von ihrer Realisierung in den meisten Fällen noch weit entfernt ist.
Je näher der nächste Urnengang rückt, die Parlamentswahlen 1998, desto zahmer wird Präsident Chirac. Nachdem er im vergangenen Jahr die Politik der „Affronts zuerst“ praktiziert hat, kündigt er jetzt bereits eine Steuersenkung für 1998 an. An seine vielen Anfangsfeinde wird sich irgendwann kaum noch jemand erinnern. Chirac hat noch sechs Jahre Zeit. Dorothea Hahn, Paris
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