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Trinken, Vögeln, Geldzählen

■ Nachtkantine: Martin Lindow las Hubert Selbys „Tralala“

Mit leicht belegter Stimme, etwas rauh, etwas von Unlust gefärbt, begann Martin Lindow zu lesen: „Tralala war 15, als sie sich das erste mal umlegen ließ. Nicht etwa aus Leidenschaft. Mehr als Zeitvertreib.“ Je stickiger die Luft in der Kantine des Schauspielhauses wurde, je mehr sich der Schauspieler in Hubert Selbys Geschichte aus Last Exit To Brooklyn einlas, desto dichter wurde die Atmosphäre.

Hubert Selbys Tralala ist eine Frau von den Straßen des New Yorker Stadtteils. Das Gefühl, das sie kennt, ist die Gier nach Abwechslung. Sie braucht die Beachtung der Männer, sie spürt sich selber nur beim Trinken, Vögeln oder Geld- zählen. Als sie auf einen Mann trifft, der Zuneigung für sie empfindet, ist sie hilflos. Ihre Ordnung gerät ins Wanken, sie kennt nur das Warten auf Geld, und als er ihr beim Verlassen ein Papier mit Worten gibt, wo sie auf eins mit Zahlen gehofft hat, ist sie wütend. Er läßt sie zurück mit einer kleinen Sehnsucht nach Anerkennung, untauglich für das Leben auf der Straße, sie verendet auf einem Autositz, getötet von den 30 bis 50 Männern, die der Reihe nach in sie eindringen, ihr ihren Samen und Urin geben, aber nichts, was sie zum Leben braucht.

Das Schweigen am Ende der Lesung war nicht nur eine durch Martin Lindows Lesekunst entstandene Fassungslosigkeit, es war dieselbe Sprachlosigkeit, die einen angesichts Selbys Realismus beim eigenen Lesen befällt. Seine Sprache schließt jede Art von Larmoyanz aus, bildet die Härte der Realität nach, ohne den Figuren Gewalt anzutun. Betroffenheit entsteht durch die Feinheit der Darstellung, durch die Einzelheiten beachtende Aufmerksamkeit, mit der er eine Welt skizziert, die seiner hiesigen Leserschaft wohl immer fremd bleiben wird. Der Applaus am Ende der Geschichte setzte nur tröpfelnd ein. Martin Lindow hatte eine Stimmung erzeugt, die erst langsam den Weg für Gespräche öffnete.

Heike Schulte

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