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Trend BeschwerdechorKollektives Rumgemotze

In Köln probt der größte Beschwerdechor der Welt. Wer frustriert ist, kann sich hier einiges von der Seele trällern - oder trällern lassen.

Der Deutsche tuts am liebsten im Verein Bild: Karlheinz Jardner

Sprechen, rhythmisieren, harmonisieren - wie ein Mantra wiederholt Komponist Wilfried Kaets diese drei Wörter, wieder und wieder. Er ist leger gekleidet, trägt Jeans und ein blauweiß kariertes Hemd mit kurzen Ärmeln. Der Schweiß läuft ihm von der Stirn. Sprechen, rhythmisieren, harmonisieren. Die Sänger und Sängerinnen machen alles richtig, sie bewegen ihren Mund nicht nur, sie ar-ti-ku-lie-ren. Han-dy-lärm, Rauch-ver-bot, Hun-de-kot.

Im Kölner Beschwerdechor können Sangeswillige ihrem Ärger Luft machen. Egal ob Alltagsproblemchen, Ärger mit der Bahn oder der Abstieg des Lieblingsvereins - jeder Aufreger wird mit ein paar Takten gewürdigt. Passé sind die Nörgeleien an der Supermarktkasse, stattdessen gibt es kollektives Rumgemotze mit musikalischer Begleitung. Das kräftigt die Gemeinschaft und die Lunge. Mitsingen darf jeder, der Lust und ordentlich was zu meckern hat, egal ob Unter-der-Dusche-Sänger oder Profi-Nachtigall.

Die Freude am Singen ist bei einem Großteil der Teilnehmer nur ein angenehmer Nebeneffekt. Sie wollen vor allem erreichen, dass ihre Beschwerden an die Öffentlichkeit gelangen. So auch der Rentner Harald Prütz, der im Fernsehen vom Beschwerdechor gehört hat. "Beschwerden gehören unters Volk!", sagt er und betont den Vorteil, mal auf eine andere Art motzen zu können. Ursula Bause, 58, fährt sogar eine gute Stunde nach Köln, um an den Proben teilzunehmen. In der Rheinzeitung habe sie vom Beschwerdechor gelesen und befunden, "das lohnt sich schließlich".

Wirklich neu ist das Projekt von Louwrens Langevoort, dem Intendanten der Kölner Philharmonie, eigentlich nicht. In St. Petersburg, Jerusalem, Budapest und vielen anderen Städten auf der Welt gibt es seit Jahren ähnliche Bewegungen. Ursprünglich kommt die Idee des "Complaints-Choir" aus Finnland, wo das Künstlerehepaar Tellervo Kalleinen und Oliver Kochta-Kalleinen einen Weg suchte, die negative Energie des Beschwerens in positive umzuwandeln. 2005 starteten sie das Pilotprojekt in Birmingham, mittlerweile ist das Phänomen ein Selbstläufer. Der Kölner Beschwerdechor, der vom Landesmusikrat Nordrhein-Westfalen und der Betriebsgesellschaft KölnMusik getragen wird, ist die jüngste Initiative - und mit über 100 Teilnehmern der derzeit größte Ableger. "Ich bin sehr überrascht über die hohe Teilnehmerzahl", sagt Kaets und fährt sich durch die dunklen Haare. Auch das gesangliche Talent sei verblüffend, gerade bei so vielen Laien.

Wie Marionetten an unsichtbaren Fäden stehen die Chorteilnehmer abwechselnd auf, stellen sich auf die Zehenspitzen und wippen auf und ab. Die Einstimmungsübung erfordert schnelle Reaktionen. Kaets bombardiert die SängerInnen mit Fragen, wer sie bejaht, muss aufstehen. Wer ist älter als 20? Älter als 30? Älter als 70? Aufstehen, wippen, hinsetzen. Spontaner Applaus bricht aus, als die über 20-Jährigen aufstehen sollen und eine offensichtlich reife Dame sitzen bleibt. Bereits um zehn Uhr morgens ist die Stimmung auf dem Höhepunkt.

Wilfried Kaets, der auch als Stummfilmkomponist arbeitet, mischt in dem Beschwerdechoral verschiedenste Musikarten zu einem harmonischen Ganzen. "Der Text muss immer auch durch die Melodie klar werden", erklärt er seine Vorgehensweise. Wer genau hinhört, erkennt zwischendurch Fragmente aus Kirchenliedern, Klassik und Popsongs. Wie im Fußballstadion wird der FC Köln angefeuert: "Nie mehr zweite Liga, nie mehr, nie mehr", nur die Tränen in den Augen der Sänger fehlen. Auch über ihre Frauen dürfen sich die Männer mal so richtig aufregen und sticheln: "Mütter, die ihre Baybkutschen breitärschig entlangschieben, haben auf Radwegen nichts verloren!" Die Antwortmelodie der Alt- und Sopranstimmen erinnert an die Nationalhymne: "Wir dürfen das, weil wir dafür sorgen, dass Deutschland nicht ausstirbt!"

Sind solche Dialoge nicht viel zu lustig für dieses doch eher ernste Thema? Wilfried Kaets schüttelt den Kopf. "Das Ganze ist doch definitiv Unterhaltung", da dürften die Beschwerden ruhig auch comedyähnlich präsentiert werden. Schließlich soll das Publikum beim Konzert am 20. September in der Kölner Philharmonie gerne zuhören - und sich die Proteste zu Herzen nehmen. Auch im Kölner Rathaus ist ein Auftritt geplant. Das freut vor allem Gesine Sachs, mit 69 Jahren eine der ältesten Mitwirkenden, aber nach eigenen Angaben im Herzen noch immer ein Kind: "Ich habe richtig Lust zu protestieren, weil der Bürgermeister nie da ist, wenn man ihn braucht."

Die zweite Strophe sitzt. Wilfried Kaets spielt die letzten Akkorde, springt vom Klavierhocker auf und freut sich einen Ast: "Das war super!" Das Strahlen auf den Gesichtern erlischt, als er trocken hinterherschiebt: "Zufall. Noch mal von vorne." Sprechen, rhythmisieren, harmonisieren. Eine Chorprobe ist harte Arbeit. Doch gemeckert wird nicht, denn einige erinnern sich an Kaets scherzhafte Begrüßungsworte: "Sie dürfen sich immer beschweren - nur nicht bei mir."

Meckern als Inspiration

Und der Beschwerdefluss ist noch lange nicht versiegt. In den Pausen bekommt Kaets massenweise Zettel zugesteckt, auf denen neue Beanstandungen stehen. Er sammelt sie und bastelt daraus bis zur nächsten Probe eine neue Strophe. Es ist ein interaktiver und anstrengender Prozess, bis die letzten Takte des Gesamtwerks fertig gestellt sind. Ein Forum für die Allgemeinheit gibt es außerdem auf der Internetseite www.beschwerdechor.de. Hier sind skurrile, politische und sehr persönliche Beschwerden gesammelt, die ebenfalls als Inspiration für den Komponisten dienen. Karl Meyer aus Refrath beispielsweise schreibt: "Ich möchte mich über meine Frau beschweren, die mir heute - obwohl Sonntag - seit 25 Jahren zum ersten Mal kein Frühstück ans Bett gebracht hat…" Und Maria Monse aus Leverkusen lästert: "Leverkusen ist ein entseeltes Kaff."

"Kölsch lamenteere schmölzje" -So heißt der Beschwerdechor im heimischen Dialekt. Trotzdem sollten die Sänger doch bitte, bitte das "Kölsch rausnehmen", wenn sie ihre Litanei vortragen. "Rumnuscheln könnt ihr zu Hause", sagt Kaets und übt mit dem Chor eine deutlichere Aussprache. Das Wort "breitärschig" müssen auch Oma und Opa in der letzten Reihe mit ihren Hörgeräten verstehen. "Momentan klingt es eher tschechisch", ruft Kaets hinter seinem schwarzen Flügel hervor, "so wie Bratislava Lover."

Nach vier Stunden Stimmbandtraining sind auch die Schülerinnen Simone Schrapers, Susan Staron und Jennifer Schulz erschöpft. Sie singen im Oberstufenchor eines Gymnasiums, ihre Lehrerin hat ihnen den Beschwerdechor empfohlen. "Die Probe ist super anstrengend, weil sie so lange am Stück dauert", sagt die 18-jährige Simone. Und Jennifer ergänzt: "Vor allem Samstags so früh aufzustehen, kostet ganz schön Überwindung." Ob sie das nächste Mal wiederkommen, wissen sie noch nicht. Doch über den Chor gemeckert wird nicht. Die drei haben noch die strengen Worte von Komponist Wilfried Kaets in Erinnerung.

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1 Kommentar

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  • BB
    Bernward Boden

    Ihr nennt es "kollektives Rumgemotze" und macht damit einfach Leute lächerlich, die weder bei den etablierten Parteien noch in den arroganten Ideologiezirkeln wirklich noch gehört werden. Wo alle Alles immer schon wissen, kommt sowohl der Humor als auch der einfache Bürger und die einfache Bürgerin zu kurz. Das Rumgemotze in Parteitagen und Arbeitskreisen kenn ich aus langjähriger Erfahrung. Aber das Singen - dialektisch zudem, wenn auch für den Anfang erstmal mit einfachen Themen - stünde denen gut zu Gesicht, die mit einfachen Antworten die Welt erklären wollen. Schaut man nämlich in die Texte, sieht man oft mit Überraschung, was zwischen den Zeilen steht. Beschwerden, die übrigens in hundertfacher Weise von jedem und jeder ins Netz gestellt werden konnten, und die der Komponist ausgewählt hat, weil 120 Beschwerden der Sängerinnen und Sänger nicht diskutiert werden konnten, sonst wäre nie ein Auftritt gewesen, sind nicht identisch mit Politik. Schlaumeier gönnen das wohl nicht. Es geht auch nicht um "Frust von der Seele singen", sondern es geht um die kollektive Egoismuserfahrung, der eigentlich das Konzept einer solidarisch-sozialen Gesellschaft entgegen gesetzt werden müsste. Aber selbst wenn man in Köln das Braune zu Recht als Scheiße beschreibt - so beim Auftritt in der Philharmonie - , dann ist das wohl mehr als nur Gemotze. Es ist ein Standpunkt, der ohne Clownsmaske und ohne Zerstören von öffentlichen Einrichtungen besser gesungen wird. - Da genügt ein Satz. Besser als sich mit Polizisten prügeln oder mit Hass im Herzen die Demokratie zerstören.

    Ich glaub, ich tazze.