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Trauriger Hang zum Familiären

Auf dem englischen Buchmarkt dominiert der Einheitsbrei. Nur was sich gut verkauft, wird publiziert  ■ Von Neil Belton

Im Westen gibt es keine Buchzensur. Jeder Versuch, dieses Statement einzuschränken, wäre lächerlich. In weniger als 500 Jahren haben sich Menge und Zugänglichkeit gedruckter Bücher derart entwickelt, daß einem der Besuch eines Buchladens Schwindel verursachen kann: Wände menschlicher Denk- und Schaffenskraft türmen sich da auf, verzweifelt sucht man nach einem Mittel, sie Zentimeter für Zentimeter abzuarbeiten – noch dazu in den wenigen Stunden, die unsere Kultur einem zum Lesen läßt.

Auf der Frankfurter Buchmesse des späten 17. Jahrhunderts, nach den chaotischen Jahren des Dreißigjährigen Krieges, hätte man gerade ein paar tausend Neuerscheinungen gefunden. Jetzt, nach den barbarischen europäischen Kriegen unseres Jahrhunderts, bietet ein einziger Waterstone-Laden [Buchkette in Großbritannien; Anm. d. Ü.] über 140.000 Titel unter einem Dach; und in Frankfurt werden die Übersetzungsrechte für mindestens doppelt so viele angeboten (zumindest theoretisch, denn die meisten Bücher bleiben schließlich doch in den Grenzen ihrer Länder und Sprachen).

Zu Recht gratulieren wir uns zu unserem kulturellen Glück – und nur wenige Industrien tun das so regelmäßig wie die Buchindustrie. Deren Kalender hat mehr Festtage als die Kirche im Mittelalter, ein Reigen festlicher Galas und Preisverleihungen, mit den immer gleichen, schwarzgekleideten Gestalten, die einander mit der glatten Ernsthaftigkeit von Höflingen in einem Webster-Stück grüßen.

Man leitet Unternehmen, in denen alles gedruckt werden darf, genüßlich werden frühere Tabuthemen und einstmals unsichtbare Neigungen vermarktet: Bücher von Schwulen, fröhlichen Sadisten, wüsten Anarchisten, strengen Marxisten und kaum kaschierten Rassisten; Gewalt am laufenden Meter, medizinische Ratgeber für alle erdenklichen körperlichen oder psychischen Zustände und tonnenweise Pornographie. Klassiker sind zu historisch beispiellos niedrigen Preisen zu haben, als Gesamtausgabe oder häppchenweise zu 60 Pence.

Man kann sich nicht vorstellen, daß noch irgendeine Meinung unterdrückt sein könnte, weil die Bücher es nicht sind. Alle Versuche, Bücher zu verbieten, waren immer wieder zum Scheitern verurteilt. So verkaufte sich Luthers Bibel trotz der „Fatwas“ von Kaiser und Papst im 16. Jahrhundert millionenfach, und Rushdie wird von uns geliebt, gerade wegen der Enzyklika des Großen Ayatollah. (Jedenfalls glauben wir das gern: eine unserer liebsten Selbsttäuschungen, die sich durch die Weigerung der Buchindustrie verrät, eine Taschenbuchausgabe der „Satanischen Verse“ zu produzieren!)

Wenn das allgemeine Bild so positiv ist, warum sind dann so viele Menschen, die im Verlagswesen arbeiten, um die Buchkultur besorgt? Vielleicht, weil berechtigte Zweifel am Engagement der Mächtigen im Buchgeschäft für wirklichen Pluralismus und echte Qualität an ihnen nagen...

Der englische Markt wird von angloamerikanischen Großkonzernen beherrscht, die auch enormen Einfluß auf die Publikation nichtenglischsprachiger Projekte haben. Bücher sind nicht nur Ausdruck von Denken und Phantasie, sondern auch Waren, und je ähnlicher sie einander sind, desto einfacher verkaufen sie sich. Große Unternehmen wollen so wenige Überraschungen wie möglich. Das klingt vielleicht nach einem Widerspruch, da es doch um das Verlegen von Büchern geht. Aber die Konzerne trainieren wie olympiaverdächtige Athleten für eine größtmögliche Vorhersagbarkeit.

Eine der heimtückischsten Versuchungen im Verlagsgeschäft ist das Denken in Analogien. Es mag eine gute Marketinghilfe sein (warum ein Buch nicht „Das chinesische ,Hundert Jahre Einsamkeit‘“ nennen, wenn's dem Absatz dient?), aber am Ende werden Schablonen daraus. Es ist beängstigend, nervöse Verleger hektisch an Genres herummanipulieren zu sehen – eine Art kultureller Autoerotik: zum Beispiel der Justizthriller (dicke Wälzer mit Strafverteidigern als Helden), der Thriller mit exotischen Gewaltakten (möglichst in einer von Drogen verseuchten Stadt des amerikanischen Südens spielend, geschrieben als eine dröhnende Parodie auf biblische Prosa) und natürlich der Thriller zum Serial Killer (ad nauseam). Diese Art Fließbandproduktion, auf die nur noch wenige Verleger verzichten, war immer schon ein Merkmal billiger Schmöker und pornographischer Literatur. Heute erstreckt sie sich allerdings auch auf Marketingbücher, New-age-Mystizismus, Kochbücher und Prominentenbiographien.

Wir alle lieben die vorhersehbare Variante dessen, was wir lesen und hören. Und eine der großen Freuden beim Lesen von Schundromanen ist, zu sehen, daß die Autoren oft viel besser sind, als sie sein müßten, wie Raymond Chandler, Elmore Leonard und Sara Paretsky. Wirklich beängstigend ist allerdings der zunehmend aggressiv-selbstzufriedene Populismus der Verantwortlichen, für die „Literatur“ ein Schimpfwort und deren einziges Lebensziel die Veröffentlichung kommerzieller Stoffe ist. Eigentümlich ist auch die Polemik gegen „Elitismus“, die ihre Entschlossenheit begleitet. Das ist ganz bewußte Unkultur, wie bei Murdoch: Titten und Massenmörder verkaufen sich gut, was beweist, daß das alles ist, was die Masse will.

Diese Haltung ist heute weitverbreitet, und selbst die altehrwürdige Verteidigung der dicken Schmöker – die einem das Verlegen der wirklich guten Bücher gestatten – wird mit Verachtung gestraft. Eigentlich sollte das Verlegen von Büchern von einer Leidenschaft fürs „Interessantmachen“ getragen sein. Der dagegen heute vorherrschende Zwang zum Familiären ist äußerst deprimierend.

Allerdings ist dies im britischen Verlagswesen bisher eher eine zwar starke Tendenz, aber keine starre und verfestigte Haltung. Wenn jedoch der Markt, wie es einem jeder vernünftige Ökonom hätte voraussagen können, die Produktion von Büchern zentralisiert und vereinheitlicht und zugleich den Austausch von Ideen liberalisiert, verstärkt die Dominanz einiger weniger Großverlage in Großbritannien damit eine ganz bestimmte Vorurteilskultur.

Obwohl das Verlegen von Literatur unter Druck gerät, erfolgt die Ausbildung britischer Verleger paradoxerweise in einer Kultur, in der Literatur immer noch an erster Stelle steht. Bücher, die, wie beispielsweise in Amerika, die Probleme des Landes selbst diskutieren, werden in Großbritannien durch ein feinmaschiges Netz gefiltert, das Leute wie F.R. Leavis, Christopher Ricks und Terry Eagleton gesponnen haben. Kein Verleger hat große Ambitionen, Bücher zu machen, die sich ernsthaft mit den quälenden Dilemmata des britischen Niedergangs auseinandersetzen.

Darüber hinaus sind die kulturellen Adern des Landes durch ein relativ kleines Rekrutierungsfeld für das Verlagswesen verengt: im Grunde sind dies immer noch die beiden Universitäten von Oxford und Cambridge (oder ihre gerade in Mode gekommenen Alternativen Edinburgh und St. Andrews). Keine von ihnen versteht sich als Labor für Intellektuelle, die neugierig genug wären, sich mit der ganzen Bandbreite von Büchern zu beschäftigen, die es wert wären, am Ende des 20. Jahrhunderts veröffentlicht zu werden.

Eine weitere englische Besonderheit besteht darin, daß man keinen besonderen Wert auf Lektorate legt. Historisch gesehen waren britische Verleger Gentlemen, die sich um Autoren bemühten. Die Handwerksarbeit am Text, die aus einem anständigen Manuskript ein wirklich gutes Buch macht, war Aufgabe unbesungener Helden im Hinterzimmer, in der Regel übrigens Heldinnen.

Die großen Konzerne werden indes in der Regel von Männern geleitet, die in ihrem Leben noch kein Manuskript mit dem Stift in der Hand gelesen haben. Sie lieben die Lektoren nicht, dieses ganze pedantische und teure Rumgefummel an Manuskripten. Wer Bücher und Autoren heranschleppt, steht über all dem – und so wird kaum noch lektoriert. Manuskripte, die früher mit einiger Bearbeitung und viel Überredungskunst zu Büchern geworden wären, werden heute schlicht abgelehnt – sie machen zuviel Arbeit. Nur wessen halbwegs fixe Schreibe in eines der vorhandenen Muster paßt, der wird verlegt. Wer dagegen etwas zu sagen hat, es aber nicht in die verlangte Form bringen kann, hat es ziemlich schwer.

Die Zensur von Büchern ist im Westen nicht das Problem.

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