: Trauer und Angst der Kurden in Konstanz
■ betr.: "Politik der verbrannten Erde", taz vom 16.9.92
betr.: „Politik der verbrannten Erde“ von Ömer Erzeren,
taz vom 16.9.92
Das deutsch-kurdische Kultur- und Menschenrechtskomitee in Konstanz trifft sich einmal in der Woche, seit einem Jahr. Wir diskutieren, beraten, planen mit 35 bis 40 Kurden bei unseren Treffen. Viele schreckliche Berichte über Folter, Mord und Verfolgungen, begangen an Kurden, haben wir inzwischen gehört und gelesen. Aber noch nie waren die ganz persönlichen Berichte über Nachrichten aus Kurdistan, vermittelt in Telefongesprächen und Briefen, so erschreckend und bedrückend wie in den letzten Wochen. Jede/r in Konstanz lebende Kurde/in kann authentisch aus dem eigenen Familienkreis berichten.
Gleichzeitig geht die Angst um. Wir können unsere kurdischen Mitglieder nur bewegen zu berichten mit dem Hinweis, keine Familien- oder Ortsnamen zu nennen. Die Angst ist verständlich, denn wie können wir ihnen mit Sicherheit sagen, hier ist kein Spitzel, der der türkischen Botschaft berichtet, hier ist kein V-Mann des Verfassungsschutzes? [...] Sie fürchten um ihre eigene Sicherheit, sie haben Angst vor Abschiebung und Repressalien gegen ihre Familien in Kurdistan. Ihre Angst ist begründet, wie ihre Berichte belegen.
A. berichtet. Wochenlang erreicht er seine Mutter, den Vater nicht, obwohl es exakte Zeitabsprachen gab. Beispiel: jeden zweiten Montagmorgen um neun Uhr über das Telefon des Dorfvorstehers. Nach vielen vergeblichen Versuchen erreichte er die Mutter. Was war geschehen? Türkische Soldaten waren in das Haus eingedrungen. Die Schränke wurden aufgebrochen, umgeworfen, die gesamte Wohnungseinrichtung verwüstet, kaputtgeschlagen. Der Grund: angeblich die Suche nach Waffen. Waffen wurden nicht gefunden. Die türkischen Soldaten boten dann Waffen an, die gegen viel Geld gekauft werden sollten. Die Eltern wußten nicht, ob hier eine Falle aufgestellt wurde oder ob das korrupte Militär sich Geld beschaffen wollte. In Nachbarhäusern hatten die Militärs ihre eigenen Waffen, welche sie mitgebracht und versteckt hatten, „gefunden“. Die Mutter berichtet weiter: Die ganze Familie wurde auf den Dorfplatz getrieben, dort waren schon viele versammelt. Alle wurden unter Schlägen gezwungen, sich nackt auszuziehen. Kommandos wurden gegeben: „Alles hinlegen, aufstehen, hinlegen.“ Alle mußten auf dem Bauch kriechen. Der Dorfplatz war mit Dornen bewachsen, mit spitzen Steinen übersät. Meine Mutter, mein Vater waren am ganzen Körper verwundet. Die Stimme stockt. Die Frauen, Mädchen wurden gezwungen, die Männer an den Geschlechtsteilen zu ziehen, in der Dorföffentlichkeit! Nur die Männer, die sich bereit erklärten, unter dem Kommando der türkischen Militärs „Dorfschützer“ zu werden, sollten den Erniedrigungen entgehen. Niemand meldete sich. Am Ende des Gesprächs meinte die Mutter verzweifelt, wahrscheinlich werde das Telefon abgehört und sie kämen wieder. Eine Telefonverbindung kam seither nicht mehr zustande.
Alle Kurden sagen aus, daß die Telefone in den letzten Wochen abgehört werden. Sobald das Gespräch über Banalitäten hinausgeht, wird das Thema gewechselt.
B. berichtet: Sein Bruder ist nach Istanbul geflüchtet, von dort konnte er mit ihm telefonieren. „Unsere Schule, an der ich Lehrer war, gibt es nicht mehr. Sie haben eine Kaserne daraus gemacht. Kaufleute, wo wir Lebensmittel, Stoffe, Werkzeuge, Dinge des täglichen Bedarfs kauften, gibt es nicht mehr, sie sind weggegangen.“
C. berichtet: „Die Ernte wurde systematisch verbrannt. Was übriggeblieben ist, können wir nicht auf die Märkte transportieren. Wir haben keine Fahrzeuge mehr, die Soldaten haben sie alle zerstört. Kraftstoff können wir schon lange nicht mehr kaufen.“
D. berichtet: In seiner Familie sind drei Männer erschossen worden. Ein Vetter war schwerbehindert, konnte nicht allein gehen. Er starb nach Folterungen im Gefängnis.
E. berichtet: Ein junger Mann wurde auf dem Dorfplatz erschossen. Er hatte einen Fotoapparat und wollte oder hat verbrannte Häuser fotografiert, die kurz zuvor ohne Vorwarnung von den Militärtruppen in Brand gesetzt worden waren.
F. berichtet: Sein Bruder ist von einem steilen Felsen abgestürzt. Der Hintergrund: alle Zugänge zum Dorf wurden durch türkische Militärs kontrolliert, jeder mußte sich ausweisen, nachweisen woher wohin. Der Bruder wollte der Willkür der Kontrollen entgehen, er stürzte ab.
G. berichtet: Bei der Razzia in seinem Dorf sind ein Bruder und ein Vetter schwer verwundet worden. Schußverletzungen. Die Krankenhäuser in Diyarbakir lehnten eine ärztliche Versorgung ab. Der Vetter hatte eine Kopfverletzung, er war bewußtlos. G. weiß bis heute nicht, ob sein Vetter noch lebt.
H. berichtet: „In meinem Dorf gibt es keine Männer unter 50 Jahren mehr. Alle sind geflohen, gefangen, verschleppt oder tot.“
Diesen schrecklichen Berichten stehen wir hilflos, ohnmächtig gegenüber. Wir helfen uns damit, daß unser Komitee wichtig ist, damit die Kurden/innen wenigstens ein Forum haben, in dem sie über ihre Angst und Trauer sprechen können. Heinz Kopp, Konstanz
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen