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Trauer um SternenkinderIns Leben zurückfinden

Frauen, die bei der Geburt ihr Kind verlieren, fehlt oft der Raum, ihren Verlust zu verarbeiten. Hebamme Janette Harazin bietet spezielle Kurse an.

Das Thema Totgeburt ist oft noch ein Tabu – viele Betroffene leiden allein Foto: Kristina Tripkovic/Unsplash

Janette Harazin hat sich nicht verzählt: Sie hat drei Kinder. Dennoch war sie viermal schwanger und hat vier Kinder entbunden. Benjamin ist Harazins ­dritter Sohn. Er hat sich niemals mit seinen Geschwistern um ein Spielzeug gestritten und hat keinen Geburtstag ­gefeiert. Er ist eine Leerstelle in der fünf­köpfigen Familie und auch nach zehn Jahren ist seine Abwesenheit präsent.

Die Zahl der Totgeburten ist in Deutschland vergleichsweise gering, sie liegt bei 0,24 Prozent, Aber das bedeutet: Wenn im Jahr 2017 etwa 785.000 Babys lebend zur Welt kamen, wie das Statistische Bundesamt sagt, dann wurden etwas mehr als 1.800 Babys tot geboren. Sternenkinder heißen sie, und ihre Mütter werden verwaiste Mütter genannt. Das Thema Totgeburt ist dennoch ein Tabu – viele Betroffene leiden allein.

Janette Harazin erinnert sich an den Tag ihrer Entbindung: Der Kreißsaal der Asklepios Klinik in Hamburg-Barmbek bemüht sich um heimelige Atmosphäre. Aber mit Linoleumboden, Schläuchen, Nadeln und den blinkenden Lichtern der Geräte entsteht am Ende eben doch ein steriles Klinikbild – wie es das in Deutschland unzählige Male gibt.

Harazin erinnert sich an den Moment, als sie weiß, dass etwas nicht richtig läuft. Vielleicht aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung als Hebamme, vielleicht aber auch, weil die damals Zweiunddreißigjährige bereits zwei Kinder entbunden hatte – beide Male dauerten die Geburten nur wenige Stunden. Vielleicht ist es aber auch eine subjektive Gewissheit – ob nun nachträglich eingeschlichen oder schon während der Geburt.

Angst im Kreißsaal

Harazins dritter Sohn wollte in Beckenendlage auf die Welt kommen, eine schwierige Position, aber nicht unüblich. Dennoch ging die Geburt nicht voran – kein gutes Zeichen. Harazin bekam Angst, erzählt sie heute, sodass sie sich innerlich am CTG festhielt: Sie sah den Herzschlag ihres Ungeborenen, die Nadel des Geräts schlug regelmäßig aus. Sie erinnert sich, dass es plötzlich hektischer wurde: Weiße Kittel und geschäftige Hände bewegten sich um sie herum, sie blickte in das blasse Gesicht ihres Mannes.

Harazin erzählt, wie sie genau spürte, dass ihre Kraft nachließ, dass die Schmerzen und die Unsicherheit sie fest im Griff hatten. Letztendlich meisterte sie die letzte Wehe. Die Hebamme konnte allerdings nur noch den Tod des Neugeborenen feststellen. Ihr lebloses Baby wurde ihr vorsichtig auf den Bauch gelegt. Harazin erinnert sich, wie das kleine Wesen ganz friedlich auf ihrer Brust lag.

Es ist ein Tabu, zu sagen, dass man einer anderen Frau das Kind stehlen will

Janette Harazin, Hebamme

Von einer Totgeburt spricht man in Deutschland dann, wenn das Neugeborene über 500 Gramm wiegt und nach der Geburt kein Lebenszeichen zu vernehmen ist. Die Eltern müssen den Tod melden, bekommen eine Geburtsurkunde mit Sterbevermerk und dürfen ihrem Kind einen Namen geben. Es besteht Bestattungspflicht.

Jeder geht anders mit Kummer um

Janette Harazin brauchte die Beerdigung, um Abschied zu nehmen. Sie und ihr Mann haben ihr drittes Kind Benjamin genannt. Harazins Jüngster weint bitterlich, er hatte sich darauf gefreut, großer Bruder zu werden. Der Älteste hingegen steht teilnahmslos neben seinen Eltern. „Er meinte damals, dass er Benjamin ja niemals kennengelernt habe. Ich solle ihm nicht böse sein“, sagt Harazin. Sie weiß, dass jeder mit seinem Kummer anders umgeht, und lässt ihren Sohn in Ruhe.

Sie versucht, in ihr Leben zurückzufinden, und geht gleich wieder arbeiten, macht Schichtdienst in einer Klinik und leitet nebenbei eine Praxis. Sie arbeitet zu viel und bricht nach einem halben Jahr zusammen. Heute wirkt Janette Harazin entspannt. Sie sieht jünger aus als zweiundvierzig, hat ihre glatten Haare zu einem Zopf gebunden und ist ungeschminkt. Sie hat eine mädchenhafte Stimme und lacht viel. Nur als sie von der Phase nach dem Tod ihres dritten Sohnes erzählt, wird sie ruhiger.

„Ich habe wirklich schlimme Dinge in dieser Zeit getan“, flüstert sie. Einmal habe sie einer befreundeten Schwangeren die Bilder von ihrem toten Sohn gezeigt und ausschweifend von der Beerdigung berichtet. Die Schwangere habe sich abgewandt und später beklagt, dass sie diese Bilder nie wieder aus ihrem Kopf bekommen habe. Harazin sagt über sich selbst, sie sei damals eine sehr kühle Hebamme gewesen und sei kaum auf die Paare im Kreißsaal eingegangen. Ärzte werfen ihr Nachlässigkeit vor, Kolleginnen versuchen ihr zuzureden, sie solle sich eine Pause gönnen. Ohne Erfolg.

Kurse für verwaiste Mütter

Die Totgeburt von Benjamin nagt an ihr, sie hört auf zu essen, betreibt exzessiv Sport. An manchen Tagen schafft sie es morgens nicht aus dem Bett, fühlt sich überfordert. Das junge Leben, das sie täglich auf die Welt bringt, die glücklichen Schwangeren, die hoffnungsvollen Paare – all das, was sie an ihrem Job als Hebamme immer geliebt hat, erinnert sie an ihr totes Kind. Harazin geht es immer schlechter, die Familie leidet ebenfalls unter dieser Situation. Sie ertappt sich dabei, anderen Müttern ihre Kinder nicht zu gönnen, und maßregelt sich für diese Gedanken. Sie weiß keinen Ausweg und begibt sich endlich in eine Therapie.

„So richtig gut wurde es aber erst, als ich wieder schwanger wurde. Ich habe meinen Mann regelrecht dazu gedrängt, dass wir es noch mal versuchen.“ Während der vierten Schwangerschaft findet Harazin langsam wieder zu sich. Sie arbeitet nicht mehr als Beleghebamme und konzentriert sich auf ihre Praxis. Dort gibt sie nun Kurse für „verwaiste Mütter“ – als Einzige im gesamten Raum Hamburg. Sie ist stets ausgebucht.

„Nach einer Totgeburt muss eine Frau ja auch Rückbildungsgymnastik machen, kann aber schlecht in einen Kurs voller Neumütter gehen. In unseren Kursen machen wir aber nicht nur Sport, manchmal wird einfach sehr viel geweint. Dann weine ich mit den Frauen. Ich bin eine von ihnen und habe all das auch erlebt, was sie durchmachen.“

Ein sicherer Raum

Über ihre „schlimmen Gedanken“ spricht Janette Harazin vor den verwaisten Müttern ganz offen. „Es ist ein Tabu, zu sagen, dass man einer anderen Frau das Kind stehlen will. Aber diese Gedanken sind da, und es muss erlaubt sein, dazu zu stehen.“ Sie hält kurz inne. „Ich hätte es ja niemals gemacht, aber der Wunsch war da“, fügt sie hinzu.

Neben der Rückbildungsgymnastik bietet Harazin auch Beratung für verwaiste Väter oder Paare an und schafft so einen sicheren Raum für sie: Bei ihr kann man alle Ängste und Gedanken äußern und Szenarien durchspielen. Man kann durch jede Phase der Trauer und Bewältigung mit ihr gehen und am Ende hoffentlich dort landen, wo sie heute ist: wieder zurückgekehrt. Es gibt viele Wege, die an diesen Punkt führen können. Für Harazin war es die weitere Schwangerschaft. Der Weg kann aber für jedes Paar, für jede Frau anders aussehen.

Als Janette Harazin nach der Totgeburt wieder schwanger wird, fällt es ihr zunächst schwer, sich gänzlich auf diese freudige Situation, auf das aufkeimende Leben in ihrem Bauch, einzulassen. Ihr Mann spricht ihr Mut zu. Der jüngste Sohn freut sich: Er wird nun doch großer Bruder. Harazin zweifelt immer noch und bucht vorsorglich einen Friedhofsplatz neben dem des kleinen Benjamin. „Ich musste meine lebendige Tochter erst im Arm halten um zu verstehen, dass alles gut ist!“, sagt sie und lächelt.

Ein Wendepunkt

Sie erzählt von der Erleichterung. Mittlerweile ist ihre Tochter acht Jahre alt. Die Totgeburt ist für Harazin ein Wendepunkt, ab dem alles neu anfing. Sie hat gelernt, wie kostbar jeder Moment im eigenen Leben ist, aber auch im Leben ihrer Kinder. In ihren Kursen versucht sie, diesen Gedanken weiterzugeben.

Harazins ältester Sohn kann anfangs wenig mit seiner Schwester anfangen. Er wirkt teilnahmslos – genau wie bei Benjamins Geburt und seinem gleichzeitigen Tod. Er rebelliert, geht seine eigenen Wege, möchte sich mit sechzehn unbedingt ein Tattoo stechen lassen. Seine Eltern versuchen, mit ihrem Ältesten Sohn klarzukommen, möchten verständnisvoll sein, verbieten aber die Tinte unter der Haut.

Kaum achtzehn Jahre alt geworden, lässt er es dennoch machen. Er kommt nach Hause, auf seinem Oberarm ist das Geburts- und Todesdatum seines kleinen Bruders verewigt. „Er meinte dann, dass er die beiden anderen Geschwister ja an die Hand nehmen kann, den kleinen Benjamin hat er jetzt auf dem Arm.“

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5 Kommentare

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  • Ich habe mein drittes Kind in der Frühschwangerschaft verloren und auch ich habe ein Umfeld erlebt, dem die richtigen Worte fehlen. Gerade solche Fehlgeburten in den ersten Schwangerschaftswochen werden von der Gesellschaft tabuisiert bzw bagatellisiert. Ich hörte oft den Satz :"Das passiert ja bei zwei Drittel aller Schwangerschaften. " Ich fühlte mich in dieser Zeit der Trauer nicht ernst genommen. Ich war regelrecht traumatisiert und meine Familie musste das aushalten und alle haben mitgelitten. Ich habe dann nach schönen Büchern zum Thema gesucht, auch um den Geschwistern das Erfahrene näherzubringen. Leider hab ich ich nichts gefunden, so habe ich selbst zum Stift gegriffen und meine Erfahrung in Wort und Bild festgehalten. Nun ist das Buch "Im Herzen vier " im book and art affairs Verlag erschienen. Vielleicht kann dieses Buch auch anderen Betroffenen und mitfühlenden Helfern Bilder und Worte schenken. Denn auch nicht lebende Kinder sind bedeutsam für das System Familie und viel zu oft im wahrsten Sinne des Wortes totgeschwiegen. Aber jede Mutter, jeder Vater, jedes Geschwisterkind und auch die Kinder, die danach kommen, haben diese traurige Erfahrung im Handgepäck und bauen diese in ihre Weltanschauung und zukünftige Entscheidungen ein.

    • @katharina gellert:

      Liebe Katharina Gellert,



      ich habe fast exakt das gleiche erlebt wie Sie und möchte Ihnen für dieses wunderschöne Buch danken.



      Auch ich musste Ende der achten Woche feststellen, dass mein Baby nur noch "Schneegestöber" war.



      Ich weiß nicht, wie eine Mutter leiden muss, die ihr Baby in einer späteren Phase der Schwangerschaft verliert, aber der Schmerz den ich bereits in dieser Phase erlitten habe, war kaum auszuhalten.



      Meine beiden größeren Kinder hatten zum Glück noch nichts von der Schwangerschaft gewusst, sodass ich die Trauer zunächst allein bewältigen konnte (oder musste). Auch ich habe mich von der Außenwelt, auch von meinem Mann, nicht wirklich verstanden gefühlt, da der Schmerz einer Fehlgeburt in der Frühschwangerschaft oft von Außenstehenden, die nicht selbiges erlebt haben, unterschätzt wird und nicht nachgefühlt werden kann.



      Auch ich habe nach dieser Fehlgeburt ein gesundes Mädchen bekommen und habe nun "Drei in echt und Eins im Sinn", "im Herzen Vier".



      Ich danke Ihnen für die zahlreichen Momente, die ich nun dank Ihres Buches an mein Baby denken kann.



      Jenny mit Jonathan (5), Emma (3) und Carlotta (6 Monate)

  • Erstens: Warum soll das Thema ein Tabu sein? Ich rede darüber ganz unbefangen und kenne auch niemanden, der nur hinter vorgehaltener Hand darüber reden würde. Bitte um einen Beleg für diese Behauptung!



    Zweitens: Warum wird hier nur exklusiv Frauen zugebilligt keinen Raum für Trauerverarbeitung zu haben, so als wäre das für den dazugehörigen notwendigen Miterzeuger (meistens ja doch Mann) kein Problem?

  • Als Sternenkinder bezeichnet man gemeinhin auch Kinder, die weit vor der regulaeren Geburt sterben. Als Betroffene faende ich es weniger ausgrenzend, das im Artikel klarer zu stellen, auch weil die Zahl der Betroffenen um einiges hoeher liegt, wenn man auch diese Faelle mit einrechnet. Und auch das sind Menschen, die vielfach lange leiden.

    • @telaviv:

      Jeder geht mit seinem Kummer anders um. Auch das steht im Artikel. Eins aber haben doch alle trauernden Menschen gemeinsam: Sie müssen in ihrem Kummer wahr und ernst genommen werden. Auch dann, wenn sie das vielleicht selber noch nicht wissen und zunächst mit Rückzug reagieren, wie Benjamins ältester Bruder es getan hat. Das Mitgefühl anderer irgendwann doch einfordern und annehmen zu können, ist auch ein Zeichen für die einsetzende Heilung.

      Ich kann Ihren Kommentar sehr gut verstehen. Sie fühlen sich einfach nicht mitgemeint, wenn über Janette Harazin geschrieben wird. Das liegt aber nicht daran, dass Silvia Silko sich ungeschickt ausgedrückt hätte. Es liegt einfach daran, dass Sie nicht Janette Harazin sind. Es ist nicht ihre Geschichte, die da aufgeschrieben wurde. Es ist die Geschichte einer anderen Familie. Eine Geschichte, die mit der Geschichte Ihrer Familie nur eins gemeinsam hat: Ein Baby ist tot auf die Welt gekommen. Wünsche und Träume sind geplatzt, Zukunftspläne waren vergebens, die erwachte Elternliebe ist in eine bodenlose Leere gestürzt, wie es in dem Artikel von Stefan Otto sinngemäß heißt.

      Diese Tatsache allein stiftet allerdings noch keine Gemeinsamkeit. In seinem Schmerz ist der Mensch zunächst einmal völlig allein mit sich. Er ist zum Verständnis fremden Leids oder gar zum Mitleid nicht fähig, so lange er noch keinen Boden wieder unter den Füßen hat.

      Ich denke, die Tageszeitung ist einfach nicht der richtige Platz für Ihre Trauer. Genauer: Sie ist es noch nicht. Dass Sie bisher keinen anderen Ort dafür gefunden haben, tut mir unendlich leid für Sie. Es zeigt mir, dass Sie immer noch fallen und niemand da ist, dem Sie sich in die Arme werfen können. Ich hoffe sehr, Sie finden bald eine Möglichkeit, jene Reißleine zu ziehen, die eine funktionierende Partnerschaft sein kann, wie auch immer sie aussehen mag. Ganz ohne Ihr Zutun, ganz ohne Vertrauen, allerdings, wird sich der Fallschirm wohl nie öffnen.