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Transzendenz oder Kommerz

Transatlantischer Kulturkampf um Religionsfreiheit: Frankreich und Deutschland verweigern so genannten Sekten nach strengeren Kriterien das Recht auf öffentliche Körperschaft als die USA

Religionsfreiheit istein traditionelles amerikanisches Grundrecht

von GERHARD BESIER

Die Vereinigten Staaten von Amerika verabschiedeten im Oktober 1998 ein Gesetz zum Schutz der Religionsfreiheit in aller Welt. Innerhalb des US State Department wurde eine Abteilung eingerichtet, die Verfolgungen und Diskriminierungen von Individuen und Religionsgemeinschaften registriert. Jedes Jahr veröffentlicht das State Department einen Bericht, in dem – nach Kontinenten und Ländern geordnet – die Verletzungen von Religions- und Gewissenfreiheit notiert werden. Die USA begründen ihr Engagement mit dem Sachverhalt, dass Religionsfreiheit zum traditionellen Herzstück amerikanischer Grundrechte gehöre und dass nach ihren Erfahrungen dort, wo keine Religionsfreiheit herrsche, auch andere Grundrechte nicht hinreichend gesichert seien. Außerdem berufen sie sich darauf, dass auch die Europäer 1948 die Menschenrechtscharta unterzeichnet hätten.

Michael E. Parmly, der leitende Beamte für Fragen der Religionsfreiheit im US-Außenministerium, erklärte am 26. April 2001, dass einige europäische Staaten trotz Unterzeichnung internationaler Menschenrechtsverträge die Religionsfreiheit verletzten. Dem Jahresbericht 2000 zufolge gehören dazu auch Deutschland und Frankreich.

Im Blick auf Deutschland stellt der Bericht fest, dass den Zeugen Jehovas der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verweigert werde und dass die Bundesregierung der „Church of Scientology“ die Anerkennung als Religion versage. An der französischen Religionspolitik wird kritisiert, dass sie zwischen Kulten und Sekten unterscheide; Letztere würden diskriminiert und ihr Entfaltungsspielraum eingeschränkt.

An den Teil heftigen bilateralen Diskussionen wurde klar, dass es ein unterschiedliches Verständnis von Religionsfreiheit gibt. Das hat etwas mit den kulturellen Traditionen, aber auch mit den Rechtsverhältnissen zu tun. Während die Deutschen den amerikanischen Mahnungen gegenüber diplomatisch reagieren, fühlt sich Frankreich in seiner nationalen Ehre gekränkt, weist die amerikanischen Einsprüche zurück und bricht den Dialog ab.

Der amerikanische Staat besitzt kein Definitionsrecht, welche Gemeinschaft als Religion zu gelten hat und welche nicht. Er, konkret der Internal Revenue Service, entscheidet allerdings über die Steuerbefreiung der selbst erklärten Religionsgemeinschaft. Wenn kommerzielle Gesichtspunkte die transzendenten überwiegen, wird die Steuerbefreiung und damit der etablierte Status verweigert. Ansonsten sind alle religiösen Bekenntnisse und Denominationen horizontal und pluralistisch gleichgestellt. Darüber hinaus besteht in den USA auf der Grundlage des ersten Verfassungszusatzes eine strikte Trennung von Kirche und Staat, die aber nicht – wie in Frankreich – laizistisch begründet wird, sondern als Ausdruck einer positiven Religionsfreiheit verstanden werden will: Nur eine solche Trennung ermöglicht nach amerikanischer Überzeugung allen Religionsgemeinschaften die gleichberechtigte und ungehinderte Entfaltung, ohne dass der Staat durch einseitige Privilegierungen oder Benachteiligungen die freie Religionsdynamik beeinflussen könnte. Als eine Folge dieser Regelung nimmt die Zahl der Religionsgemeinschaften in den USA ständig zu. Und immer mehr US-Bürger – bisher weit über 70 Prozent – beteiligen sich am Leben der von ihnen gewählten Religionsgemeinschaft.

In Frankreich dagegen, wo seit 1905 eine strikte Trennung von Staat und Kirche herrscht, machen 70 Prozent der Bürger keinen Gebrauch von den Angeboten der etablierten Religionen. Obwohl Deutschland mit seiner „hinkenden Trennung“ von Staat und Kirche und einer hohen Privilegierung etablierter Religionsgemeinschaften durch Verleihung hoheitlicher Rechte (Körperschaften des öffentlichen Rechts) ein ganz anderes Modell besitzt, sieht es mit der Abstinenz gegenüber dem religiösen Leben ähnlich aus wie in Frankreich.

Beide Länder sind sich auch darin einig, dass von „ Sekten und Psychogruppen“ eine „Gefahr“ ausgehe und haben darum in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre eine Parlaments- beziehungsweise eine Enquetekommission eingesetzt und lassen einige Gruppierungen mit geheimdienstlichen Methoden observieren. Obwohl beide Kommissionen die häufigsten Vorwürfe gegen kleine Religionsgemeinschaften – etwa sie übten „mentale Kontrolle“ über ihre Anhänger aus und betrieben „Gehirnwäsche“ – nicht mit sozialwissenschaftlich akzeptablen Nachweisen belegen konnten, hat der französische Senat nun Anfang Mai 2001 ein Anti-Sektengesetz verabschiedet.

Deutschland zögert noch, weil ein solches Vorgehen auch den Status der beiden großen „Volkskirchen“ berühren könnte. Bislang werden deren Sektenbeauftragte staatlicherseits meist so wahrgenommen, als handele es sich um Experten schlechthin und nicht um Bedienstete einer konkurrierenden „Religionsgesellschaft“. Denn ob sie nun „Kirchen“ oder „Sekten“ genannt werden – um Religionsgemeinschaften handelt es sich in jedem Fall. Dies ist ein Sachverhalt, den die „Volkskirchen“ gerne vergessen machen wollen.

Während gerade der deutsche Protestantismus den Gegnern kleiner Religionsgemeinschaften eifrig zuarbeitet, Betroffeneninitiativen unterstützt, verurteilt der französische Protestantismus das Vorgehen der französischen Regierung. Da selbst nicht privilegiert wie die reichen, durch Kirchensteuern gepäppelten deutschen Nachbarn, hat man dort nicht vergessen, was es heißt, wegen seiner Glaubensüberzeugungen diskriminiert oder verfolgt zu werden.

Nach Verabschiedung des französischen Anti-Sektengesetzes hat sich der amerikanische Staatssekretär Michael L. Parmly „besorgt“ über diese Entwicklung geäußert, weil seine Regierung darin eine Bedrohung der Religionsfreiheit sieht. Das Gesetz sei „gefährlich ambiguös“ und könne genauso gegen gerechtfertigte religiöse Vereinigungen wie religiöse Schulen, Seminare und andere religiöse Einrichtungen eingesetzt werden.

Die durch Ministerpräsident Lionel Jospin eingesetzte „Interministerielle Mission zur Bekämpfung des Sektenwesens“ in Frankreich nimmt bei etwa 180 kleinen Religionsgemeinschaften psychologisch-politische Etikettierungen vor, die auch auf große, längst etablierte Religionsgemeinschaften zutreffen.

Frankreich beharrt auf seinem mystisch überhöhten Fortschritt, Deutschland auf konservativer religiöser Versorgung durch die Etablierten. Trotz entgegengesetzter Motive kommen sie zu demselben Ergebnis: Die „Sekten“ sind zu bekämpfen. Damit wird den privilegierten „Volkskirchen“ mit dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts und einem gesetzlich verbrieften „Öffentlichkeitsauftrag“ die Chance eingeräumt, sich ohne Konkurrenzdruck zu verfrommen. Das durch die Erkaltung der „Volkskirchen“ eingetretene religiöse Vakuum möchte man für ihre Wiedererweckung frei halten.

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