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Archiv-Artikel

kuckensema: auf bremens leinwänden Transsilvanische Tristesse: „Carpatia“ von Andrzej Klamt und Ulrich Rydzewski

An der Peripherie scheint die Zeit erstarrt zu sein. Landschaften, Tiere und Menschen wirken statisch, die Karpaten ruhen in ewiger Tristesse. So zeigen zumindest die beiden Dokumentarfilmer Andrzej Klamt und Ulrich Rydzewski die 1500 Kilometer lange Gebirgskette, die einst zum Gebiet der k. u. k. Monarchie gehörte und sich heute durch die Slowakei, Polen, Ukraine und Rumänien erstreckt.

Sie sind durch diese „terra incognita im Bewusstsein der Westeuropäer“ – so Klamt – gereist und haben Menschen gefunden, die ihnen direkt in die Kamera ihre Lebensgeschichten erzählen. Marinella Urs etwa lebt in einem kleinen Dorf im rumänischen Transsilvanien, arbeitet dort in einem kleinen Laden und war noch nie in ihrem Leben verliebt. „Ich glaube nicht, dass Glück hier auf Erden zu finden ist“ sagt sie. Antonia Lanik scheint dagegen in dem kleinen Wanderzirkus ihrer Familie, der durch die Dörfer der Slowakei zieht, glücklich zu sein: „Hier kann ich Dienstmädchen und Königin in einer Gestalt sein“ sagt sie – und meint damit doch nur, dass sie an der Kasse stehen, putzen und abends dann auf der Bühne die schwebende Jungfrau sein darf.

Acht einzelne Menschen oder Familien haben die Filmemacher porträtiert und stellten sich selber dabei die Aufgabe, einen „Querschnitt der Bevölkerung“ zu zeigen. So sind die verschiedenen Ethnien der Regionen vertreten: Roma, Goralen, die wenigen alten in Siebenbürgen verbliebenen Deutschstämmigen, die drei Juden, die als einzige in Galizien noch Jiddisch sprechen können und ein Ehepaar, das zu dem von den Sowjets fast völlig eliminierten Hirtenvolk der Huzulen gehört, und so gut wie autark in einem hochgelegenen Berghof lebt.

Lange Panoramaschwenks durch die Landschaft wechseln sich mit Momentaufnahmen ab. Wie etwa jener aus einer fast leeren Kirche in Siebenbürgen, in der eine Gruppe alter Frauen in archaisch klingendem Deutsch ihre Anrufungen der Heiligen Maria herunterbetet. Damit mag „Carpatia“ auf den ersten Blick wie ein ethnographischer Film wirken, doch tatsächlich sind die Filmemacher mehr an einer poetischen Wahrheit als an gesellschaftlichen Realitäten interessiert.

Eine Schafherde wird an einer langen Betonmauer vorbeigetrieben, und dieses Bild illustriert das Schicksal des kleinen rumänischen Bergdorfes Rosia Montana mehr noch als die Klagen ihrer Bewohner, vor deren Augen ihre Heimat zerstört wird, weil hier Gold gefunden wurde und nun riesige Maschinen die Berge aufbrechen.

In seinen besten, bildgewaltigen Momenten erstrahlt „Carpatia“ in einer dunklen, melancholischen Schönheit, und zumindest einen der Menschen in ihnen wird man so schnell nicht mehr vergessen: Gustav Obsivan, der allein mit seinen Tauben in einer Berghütte lebt. Seit seiner frühesten Kindheit sind seine Beine verkrüppelt und er muss sich auf den Händen voranziehen.

Er lebt ein armseliges, einsames Leben und er spricht darüber mit einer erschütternden Sachlichkeit. Er liebt seine Tiere, aber wenn er Hunger hat, schlachtet er sie: „Ich töte auch deine Frau, wenn‘s sein muss!“ sagt er ganz selbstverständlich in die Kamera und danach sieht man die Kargheit seiner Holzhütte in der slowenischen Fatra mit anderen Augen. Wilfried Hippen

„Carpatia“ läuft in der Originalfassung mit Untertiteln Do & So & Di um 20.30 sowie Fr & Sa um 18.00 im Kino 46