„Carpatia“: Ein gemächlicher Dokumentarfilm über die Bewohner der sagenumwobenen Bergregion : Transsilvanische Hunde
Dichte Wälder, unendliche Bergketten, geisterhafte Nebelschwaden und beklemmende Stille: So präsentieren die beiden Filmemacher Andrzej Klamt und Ulrich Rydzewsky die Karpaten in ihrem zweistündigen Dokumentarfilm Carpatia. Mystisch wirkt dabei die monumentale Naturkulisse, auch ohne Graf Dracula. Im rumänischen Transsilvanien, auf einer großen Wiese, treffen die Filmer statt des adeligen Blutsaugers auf Marinella Urs. „Ich fühle mich nicht wie in der Peripherie“, sagt die Verkäuferin aus dem Dorfladen. „Dieser Ort gefällt mir. Hier habe ich das erste Mal die Augen aufgeschlagen. Meine Mutter hat mich nicht allein gelassen, als ich klein war. Jetzt kann ich sie auch nicht allein lassen.“
Die Kamera wandert weiter, sehr bedächtig, zu satten Kühen im ukrainischen Huzulenland, zu einem träumenden Hund im polnischen Karpatengebiet, zu den gurrenden Tauben im baufälligen Holzhaus von Gustav Obsivan, oben auf dem Hügel, in der Slowakei oberhalb des Ortes Terchova. Die Tiere haben eines gemeinsam: Sie bewegen sich kaum – wie die Menschen, wie die Bäume, wie die Kamera, die mit ihren Standbildern scheinbar die Langsamkeit noch einmal zu entdecken sucht.
Das 1.500 Kilometer umfassende Gebiet der Karpaten schrumpft zusammen auf dieses filmische Bilderbuch aus Tieren, Bäumen und Menschen. Sie leben in bescheidenen Verhältnissen, egal, ob im polnischen, rumänischen, ukrainischen, galizischen oder slowakischen Teil der ländlichen Bergregion. Gustav Obsivan zum Beispiel, der Mann mit den Tauben. „Ich liebe meine Tiere“, sagt er zahnlos lachend. „Doch ich schlachte sie auch, wenn sie zu viel werden. Das gibt ‘ne leckere Suppe. Ich schlachte auch die Kaninchen meines Nachbarn, wenn er es nicht kann.“ Dabei hockt er am Boden auf seinen durch Kinderlähmung verkrüppelten Beinstummeln, wandert dann auf seinen riesigen Händen über einen Holzsteg von seinem hölzernen Wohnhaus zum Taubenstall.
„Mich hat die Offenheit der Leute in den Karpaten fasziniert“, sagt Regisseur Andrzej Klamt. „Wir wollen das Leben in den Karpaten-Anrainerstaaten in dem Film nicht repräsentieren, sondern einen Querschnitt der Bevölkerung zeigen“, sagt der aus Schlesien stammende, inzwischen in Wiesbaden lebende Regisseur Klamt über seinen Film, der beim internationalen Filmfestival CinemAmbiente in Turin im vergangenen Oktober den Hauptpreis als bester Dokumentarfilm gewann.
Und weiter geht‘s zu dem Bauernehepaar Kalyna und Mikola Marusjak, die auf ihrer weiten Weide wie nebeneinander aufgestellt wirken und stolz darauf sind, „echte Huzulen“ zu sein. Die Sowjets haben das Hirtenvolk der Huzulen während ihrer Herrschaft durch die Kollektivierung der Landwirtschaft fast zerstört. Die Marusjaks haben ihr Gehöft und ihre Tiere auf der Karpatenalm durch das Regime gebracht. Kein Wunder also, dass sie stolz sind auf ihre ethnische Zugehörigkeit. Doch diese erhellenden Hintergrundinformationen liefert der Film nicht.
Und wie, um nicht genauer auf historische und soziale Zusammenhänge schauen zu müssen, zieht die Kamera von dem Huzulenehepaar weiter zu der fahrenden Zaubererfamilie Lanik und beobachtet, wie die Mutter ihre in weißes Tuch eingewickelte Tochter – sehr langsam natürlich – ohne Berührung zum Schweben bringt. Zusammen mit dem ausgelassenen Sinti und Roma Klan von Gheorge Pantir feiert das Filmteam Geburtstag. In der familieneigenen Schmiede erzählt Gheorge Pantir von seinem Handwerk, das seit Generationen vom Vater auf den Sohn übergehe. „Für Fleißige ist es niemals schwer, wem die Arbeit nicht schmeckt, der hatte es früher unter Ceausescu schwer und hat es heute schwer.“ Während die Frauen des Klans auf der tristen Bank vor dem Haus kauern und die Großmutter klagt: „Unsere Sorgen sind groß, wir haben so viele Kinder und Enkelkinder, aber keine Arbeit und keine Löhne. Von der Sozialhilfe zu leben ist schwer.“
Extreme Wahrnehmungsunterschiede also, denen das Filmteam nicht nachgeht. Stattdessen durchkämmt man die Karpaten nach neuen Interviewpartnern. In sechs Episoden klappern sie die hintereinander ab, ohne die individuellen Lebenszusammenhänge zu vertiefen. Dabei hätten einige von ihnen Stoff für einen eigenen Film geboten. Katrin Jäger
Sa, 8. 1., 20 Uhr, Abaton sowie ab 13. Januar im Metropolis