Trainingswissenschaftler über Marathon: „Von 0 auf 100 – das geht nicht“
Wie bereite ich mich auf einen Marathon vor? Wie meide ich den „Mann mit dem Hammer“? Argiris Vassiliadis vom Olympiastützpunkt Rheinland erklärt's.
taz am wochenende: Herr Vassiliadis, ein Marathon ist für viele immer noch das Maß aller Läuferdinge. Gerade viele ältere Menschen jenseits der 50 und 60 Jahre nehmen sich vor, einen Marathon zu laufen. Ist das gut so?
Argiris Vassiliadis: Ja, ich bewerte das positiv. Ich unterstütze es, wenn auch ältere Leute sich viel bewegen. Man kann viel Gutes daraus ziehen. Generell ist Laufen gut für die Psyche, eine super Therapie gegen Depressionen. Bei Frauen wirkt es vorbeugend gegen Osteoporose. Allgemein ist das Risiko für Kreislauferkrankungen geringer – und für das Gewicht ist es sowieso gut.
In den letzten drei Monaten vor einem Marathon legen Freizeitläufer zeitweise zwischen 60 und 100 Kilometer pro Woche zurück. Ist das zu viel Belastung für den Körper?
Das wäre in dem Fall abhängig vom Alter und davon, wie lange derjenige schon läuft. Von null auf hundert – das geht nicht. Wenn man aber innerhalb von vier, fünf Jahren den Umfang immer weiter bis auf 100 Kilometer steigert, ist das in Ordnung. Und für die Altersgruppen von 30, 40 und 50 Jahren ist dieser Umfang auch völlig okay.
Gerade die großen Marathons finden – nicht gerade gelenkschonend – durchgängig auf Asphalt statt. Sollte es mehr Teilstrecken auf weicheren Untergründen geben?
Für die großen City-Marathons ist die Finanzierung natürlich ein Thema. Die kommen nicht umhin, Asphaltstrecken im Stadtzentrum zu nutzen. Die Zuschauer sind ein wichtiger Faktor, die Läufer freuen sich ja auch über viele Zuschauer. Außerdem kann man auf dem Asphalt schnellere Zeiten laufen. Wenn die Teilnehmer richtig vorbereitet sind, können sie und ihre Gelenke 42 Kilometer auf Asphalt auch verkraften.
58, arbeitet im Bereich physiologische Leistungsdiagnostik am Olympiastützpunkt Rheinland. Er betreut dort deutsche Spitzensportlerinnen und –sportler.
Ein gefürchtetes Phänomen ist der „Mann mit dem Hammer“, der ab Kilometer 30 bei einem Marathon kommt. Was hat es mit dem auf sich?
Nehmen Sie einen Fußballer: Wenn der zu hart zu trainiert, sind die Beine schwer und die technischen Fertigkeiten lassen nach. „Holzbeine“ sagen die Fußballer dazu. Bei den Läufern ist es ähnlich: Wenn man beim Training übertreibt und nicht mit den entsprechenden Reserven an den Start geht, ist der Körper vorbelastet. Dann wird man schon ab Kilometer 20 oder 25 spüren, dass die Muskulatur nicht mehr funktionsfähig ist. Die Muskulatur ist „zu“, sagt man. Ähnliches kann passieren, wenn man die erste Hälfte des Marathons über seinen Möglichkeiten läuft.
Also kann man auch selbst viel dafür tun, dass der Mann mit dem Hammer nicht kommt?
Ja, natürlich. Wenn man den Wettkampf gesund und gut vorbereitet beginnt, ist das Risiko nicht hoch. Mit Defiziten sollte man sowieso nicht bei einem Marathon starten.
Welche äußeren Faktoren können dafür sorgen, dass jeder Schritt schwer wird am Ende?
Zum Beispiel extreme Hitze oder eine hohe Luftfeuchtigkeit. Solche klimatischen Bedingungen stellen ganz andere Anforderungen an den Körper. In dem Fall sollte man mehr und regelmäßiger trinken. Es ist hilfreich, sich im Vorfeld möglichst gut auf die Wettkampfbedingungen einzustellen. Wenn man einige Tage vor dem Marathon anreist, gewöhnt der Körper sich schon an die klimatischen Bedingungen.
Manche schwärmen von einem „Runner's High“, das sie bei einem Marathon erleben…
…im Wettkampf setzt ein „Runner's High“ ein, wenn der Läufer merkt, dass er das, was er sich vorgenommen hat, erreichen wird. Er merkt, dass der Aufwand etwas gebracht hat. Das löst Euphorie und Glücksgefühle aus, die Endorphine sind „aktiver“ als unter normalen Bedingungen. Das kann man mit einer Prüfungssituation vergleichen: Wenn man bei einem Test neun von zehn Fragen beantworten konnte und sich sicher ist, dass die Antworten richtig sind, setzt ein ähnliches Gefühl ein.
Trinken ist wichtig bei Marathons, das bestätigt jeder Experte. Aber zu viel trinken kann gefährlich sein, oder?
Es gibt das Phänomen der Überwässerung. Das kommt bei Freizeitsportlern vor, wenn das Wetter warm und feucht ist. Die Sportler trinken unkontrolliert, zu spät und zu viel auf einmal, die Getränke sind nicht isotonisch. Dann kann es zu Überwässerung kommen – und damit zu einer Überlastung von Herz und Lunge.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Es gibt auch immer wieder Todesfälle bei Marathons, die sich oft auf den letzten Kilometern ereignen. Welches sind die Gründe dafür?
Häufig spielen Vorerkrankungen eine Rolle. Wenn jemand zum Beispiel mit 50 beginnt Marathon zu laufen, sollte er vorher beim Hausarzt eine Blutuntersuchung, einen Belastungs-EKG und eine Herz-Ultraschalluntersuchung machen lassen. Sonst setzt er sich einem Risiko aus. Bei Abweichungen der Herztätigkeit kann eine solche Extrembelastung lebensgefährlich werden. Und wenn man erkältet ist oder Halsschmerzen hat, sollte man nicht trainieren – eine Herzmuskelentzündung, die man gar nicht sofort erkennt, kann die Folge sein.
Für Läufer, die einen Marathon bestreiten wollen: Welches wären die fünf wichtigsten Dinge, die Sie auf eine Checkliste schreiben würden?
1. Sich untersuchen lassen. Orthopädisch und kardiologisch und eine Blutuntersuchung.
2. Rechtzeitig und ausführlich die Vorbereitung planen. Drei Trainingsmonate vor dem Marathon einrechnen. Sich von Fachleuten beraten lassen bezüglich des Trainings und des potenziellen Marathontempos.
3. Sich das richtige Equipment, die richtigen Schuhe, die richtigen Socken zulegen.
4. Am Marathontag: Planen, an welchen Streckenpunkten man trinkt und isst. Eine Betreuung an der Strecke organisieren, sich mit ihr absprechen.
5. Nicht zu schnell beginnen. Bis Kilometer 35 in gleichmäßigem Tempo laufen. Wenn alles nach Plan läuft, kann man sich dann immer noch steigern.
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