Tour de France: War da was?

Reichlich verwundert reagiert die internationale Radsportszene auf Deutschlands Entsetzen über den positiven Dopingbefund bei Patrik Sinkewitz.

Legale Spritze: Die Tour de France wird am Leben gehalten Bild: ap

MARSEILLE taz Jean-Claude Godin ist bester Dinge an diesem Hochsommervormittag. Zusammen mit Tour-de-France-Direktor Christian Prudhomme steht der Bürgermeister von Marseille auf einer Bühne im Parc Cadot, unweit des alten Hafens und genießt die Festtagsstimmung zum Start der elften Etappe. "Wir haben die Begeisterung der Menschen in London gesehen", ruft der Stadtvorsteher stolz den sich drängelnden Fans entgegen. "Ich glaube, wir in Marseille übertreffen das noch." Prudhomme nickt und strahlt. Sollte er sich wegen des Dopingfalls Sinkewitz und des Boykotts der deutschen Fernsehsender gegrämt haben, so hat er dies spätestens jetzt vergessen.

Wachstumshormone: Weil sie mit der üblichen Kontrollanalytik nicht nachgewiesen werden können, gehören Wachstumshormone zu den Dopingmitteln, die den Fahndern am meisten Sorgen machen. Die Hormone werden vor allem gegen Zwergwuchs bei Kindern eingesetzt. Inzwischen werden sie auch extrem schwachen, z. B. aidskranken Patienten verordnet, oder sie sollen den Altersverfall von Hochbetagten aufhalten. Früher wurden sie aus den Hypophysen von Toten gewonnen, heute werden sie gentechnisch hergestellt. Die Hormone müssen ständig genommen werden, die Wirkung lässt schnell nach. Die körpereigene Produktion geht während der Medikation zurück. Wachstumshormone haben ein breites Wirkspektrum: von erhöhter Körperkraft und Muskelmasse bis zur jugendlich gestrafften Haut, von besserer Regeneration bis zur Vitalisierung des Hirns. Obacht! Diabetes, Leber- und Knochenschäden sind die gefährlichsten Nebenwirkungen. Auf dem Schwarzmarkt kursieren verunreinigte Produkte mit hohem Infektionsrisiko. Ausrede des Tages: "Von meinem eineiigen Zwillingsbruder kursieren noch Stammzellen in meinem Körper, das erklärt die seltsamen Blutbefunde." (Radprofi Tyler Hamilton, 2004 mit Blutdoping erwischt).

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GESAMTWERTUNG

51. und bester Italiener: Dario Cioni (Predictor)

53. Cristian Moreni (Cofidis)

68. Marzio Bruseghin (Lampre)

73. Paolo Savoldelli (Astana)

103. Daniele Bennati (Lampre)

104.Paolo Bossoni (Lampre)

108. Filippo Pozzato (Liquigas)

113. Alessandro Ballan (Lampre)

121. Daniele Righi (Lampre)

129. Matteo Tosatto (Quick Step)

140. Paolo Longo Borghini (Barloworld)

145. Claudio Corioni (Lampre)

147. Alessandro Cortinovis (Milram)

156. Manuel Quinziato (Liquigas)

157. Gianpaolo Cheula (Barloworld)

162. Alberto Ongarato (Milram)

Die Tour de France rollt weiter, die Probleme des größten deutschen Rennstalls und die Empfindlichkeiten des deutschen Fernsehens werden nur am Rande wahrgenommen. Maurice Pleury etwa, ein rüstiger Marseillais, der behauptet, "seit 70 Jahren" Radsportfan zu sein, lässt sich seinen Tour-Spaß nicht verderben. Doping habe es doch schon immer gegeben, sagt er und findet die Entscheidung des deutschen Fernsehens "idiotisch". Mehr will er nicht sagen, denn jetzt kommen nach und nach die Fahrer und er will seine Stars aus der Nähe sehen.

Im Tour-Village, dem reisenden Zeltdorf und täglichen Frühstückstreffpunkt für den Tour-Tross, sitzt Richard Virenque am Stand der Supermarktkette Champion, eines der Tour-Sponsoren. Der frühere französische Radsportheros sowie geständige Dopingsünder hat die Blätter des Tages vor sich ausgebreitet und kommentiert die Schlagzeilen in ein Fernseh-Mikrofon. "Überraschend und paradox" findet er die Reaktion des deutschen Fernsehens auf den Fall Sinkewitz. Wenn sie den Radsport schneiden, so der ehemalige Bergkönig der Tour und Ullrich-Herausforderer, müssten sie auch alle anderen Sportarten ausblenden.

Solches Unverständnis für die Entscheidung der deutschen öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten teilt Virenque hier mit der großen Mehrheit der Tour-Familie. Der Präsident der Tour-Holding Gesellschaft ASO, Patrice Clerc, etwa hatte der Sportzeitung LEquipe, die ebenfalls seiner Firma gehört, gesagt, dass er nicht nachvollziehen könne, warum die Sender seine Veranstaltung für den Fall Sinkewitz bestrafen. "Wenn am Eingang von einem Fußballstadion Leute mit Waffen erwischt werden, bestraft man ja auch nicht Veranstalter dafür."

Der Reporter einer großen französischen Nachrichtenagentur, der anonym bleiben will, glaubt gar, dass die Entscheidung von ARD und ZDF dem Radsport mehr schade als nutze. "Am meisten tut das doch Gerolsteiner und T-Mobile weh", sagt der langjährige Radsportkorrespondent, während er bei einem Kaffee die Blätter des Tages studiert. "Und das sind die Mannschaften, die am meisten gegen das Doping tun. Ich habe nicht den Eindruck, dass die Sender sich sehr gut die Konsequenzen ihres Schrittes überlegt haben. Erst haben sie zehn Jahre lang überhaupt keine Fragen gestellt und jetzt plustern sie sich auf. Das ist Heuchelei."

Es geht gegen Mittag im Parc Cadot, und die südfranzösische Sonne beginnt unangenehm zu brennen. Die Werbekarawane ist gerade in Richtung des Etappenziels Montpellier losgerollt, die Mannschaftsbusse trudeln ein und nehmen ihren Platz auf dem Startgelände ein. Kinder drängen sich mit Kappen und Postern an die Absperrungen, um sie von ihren Lieblingsradlern signieren zu lassen. Mechaniker entladen die Rennmaschinen und nehmen letzte Einstellungen an den Sportgeräten vor.

Auch hier ist man sich einig, dass der Ausstieg der deutschen Fernsehsender eine unangemessene Reaktion war. "Niemandem gefällt ein positiver Dopingfall", sagt etwa der Direktor der Quick Step-Mannschaft und Vorsitzende der Profi-Team Vereinigung Patrik Leférève, während er am Bus seiner Mannschaft lehnt. "Aber wir geben viel Geld für den Kampf gegen Doping aus. Und wenn wir Erfolg haben, laufen die Fernsehsender weg. Das ergibt keinen Sinn."

Bei den deutschen Kollegen vom Team Gerolsteiner ruft die Entscheidung der Sendeanstalt zwar Verwunderung hervor: "Die legen ihre Ethiklatte irgendwo an. Ich bin mal gespannt, ob sie das durchhalten", nörgelt Gerolsteiner-Chef Hans Michael Holczer. Wirklich wütend ist er nicht auf das Fernsehen, sondern auf Sinkewitz. "Wenn er wirklich bewusst manipuliert hat, dann ist das angesichts der Lage des deutschen Radsports eine unglaubliche Dreistigkeit." Wenn die Vereinigung der Profi-Mannschaften Sinkewitz für den Schaden, den er dem Sport zugefügt hat, nicht belange, so Holczer, dann werde er das persönlich tun.

Langsam wird die Stimme des Streckensprechers lauter und aufgeregter, der Start rückt näher. Die Fahrer tragen sich rituell in die Startkladde ein und grüßen die Fans mit einem kurzen Antippen ihrer Rennmützen. Dann nehmen sie träge Aufstellung. Ein ganz normaler Arbeitstag bei der Tour beginnt.

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