Tote Zivilisten von Kundus: Auswärtiges Amt war früh informiert
Laut "Stern" wusste das Außenministerium unter Frank-Walter Steinmeier, schon am 4. September vom Tod von Zivilisten durch die Bomben von Kundus. SPD: Keine Zusatztruppen nach Afghanistan.
HAMBURG apd/afp | In der Kundus-Affäre sieht sich auch SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier mit offene Fragen konfrontiert. Wie das Magazin Stern am Montag vorab berichtete, war bereits kurz nach dem Luftangriff in Afghanistan am 4. September ein Vertreter des Auswärtigen Amtes informiert, dass unter den Todesopfern auch Zivilisten waren. An der Spitze des Außenministeriums stand damals noch Steinmeier. Bei dem Angriff wurden bis zu 142 Menschen getötet.
Nach Informationen des Magazins nahm der Vertreter des Auswärtigen Amtes in Kundus als ziviler Leiter des Wiederaufbauteams der Bundeswehr am 4. und 5. September an Gesprächen teil, bei denen Bundeswehrsoldaten, Militärpolizisten und Vertreter afghanischer Behörden über tote Zivilisten referierten.
Wie der Stern unter Berufung auf vertrauliche Protokolle weiter berichtete, meldete ein belgischer Stabsfeldwebel, der am Mittag des 4. September mit einem NATO-Team in einer Ortschaft nahe der Stelle des Bombenabwurfs die Bevölkerung befragt hatte, es seien "14 Zivilpersonen getötet und 4 Zivilpersonen verwundet worden". Der Belgier habe eine Namensliste "zur Prüfung von Entschädigungszahlungen" angekündigt. Ein deutscher Hauptfeldwebel habe diese Meldung bestätigt, sprach aber von "7 verwundeten Zivilisten". Der Diplomat sei auch dabei gewesen, als am folgenden Tag ein Bezirksbürgermeister von zehn toten Zivilisten im Dorf Jacub Bay sprach.
Obwohl der Vertreter seines Ministeriums offenbar informiert war, sprach Steinmeier in den ersten Tagen nach dem verheerenden Luftangriff der Bundeswehr lediglich von "möglicherweise unschuldigen Opfern". Ende November forderte der SPD-Politiker, inzwischen Oppositionsführer im Bundestag, als einer der ersten einen Untersuchungsausschuss, um "unverzügliche Klarheit über die Hintergründe" der Informationspannen beim Luftangriff zu erhalten.
Unterdessen hat sich im Streit um die Zukunft des Bundeswehr-Einsatzes in Afghanistan am Wochenende der Ton zwischen Regierung und Opposition verschärft. SPD-Chef Sigmar Gabriel warf Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) in der Affäre um den umstrittenen Luftangriff in Kundus Feigheit vor. Die Koalition kritisierte Gabriels Äußerung, die SPD werde zusätzliche Truppen in Afghanistan ablehnen.
In der Kundus-Affäre stelle sich Guttenberg nicht vor die Soldaten, sondern verstecke sich hinter ihnen, sagte Gabriel der BamS. "Das nenne ich feige. Wer von unseren Soldaten Tapferkeit fordert, darf sich als Minister nicht in Ausreden flüchten." Mit seinem Verhalten in der Kundus-Affäre gefährde Guttenberg den Konsens der Bundestagsparteien in der Sicherheitspolitik und damit die Grundlage des Afghanistan-Einsatzes.
Gabriel forderte, Guttenberg im Kundus-Untersuchungsausschuss gegebenenfalls unter Eid aussagen zu lassen. "Den Soldaten ist nicht geholfen, wenn ihr oberster Dienstherr im Bundestag kein Vertrauen mehr findet."
Für Empörung bei den Regierungsparteien sorgte Gabriel mit seiner Äußerung, seine Partei werde eine Truppenaufstockung für Afghanistan über die bisherige Obergrenze hinaus nicht unterstützen. Die SPD wolle sich davonstehlen, sagte am Samstag die FDP-Fraktionsvorsitzende Birgit Homburger Spiegel Online. Guttenberg sagte in der WamS: "Gabriels Aussage heißt: Festlegung vor Strategie."
Die NATO hatte von Deutschland mindestens zwei zusätzliche Bataillone für den Einsatz im Norden Afghanistans gefordert, nachdem US-Präsident Barack Obama die Entsendung 30.000 zusätzlicher US-Soldaten angekündigt hatte. Die Leipziger Volkszeitung berichtete am Samstag unter Berufung auf ranghohe NATO-Kreise in Brüssel, das Verteidigungsministerium plane bereits für 2500 zusätzliche Bundeswehr-Soldaten in Afghanistan. Dazu erklärte Guttenberg in der WamS, die Bundesregierung formuliere derzeit eine Strategie. Derzeit sei noch offen, ob mehr Soldaten benötigt würden.
Gleichzeitig lehnte es Guttenberg ab, den Wunsch des US-Präsidenten nach einer Truppen-Aufstockung widerspruchslos zu übernehmen: "Wir sollten den Anspruch haben, eine Strategie anzustreben, die eigene Erfahrungswerte einbringt", sagte er der WamS. Zur Stabilisierung der Lage in Afghanistan müsse unter Umständen auch mit den Taliban gesprochen werden. "Nicht jeder Aufständische bedroht gleich die westliche Gemeinschaft." Er sei dafür, "zu Volksgruppen und Stämmen" offene Kommunikationskanäle zu halten, "solange man sich dadurch nicht selbst eine Falle stellt".
SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles forderte im Deutschlandradio Kultur Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) auf, noch vor der Afghanistan-Konferenz Ende Januar den Bundestag über die Ziele und Grundsätze des Truppeneinsatzes zu informieren. SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier sagte der Wochenzeitung "Das Parlament", Deutschland werde auf der Konferenz unter Druck geraten, mehr Soldaten an den Hindukusch zu entsenden. "Wer ohne eigene Linie verhandelt, wird später zu den Getriebenen gehören."
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