piwik no script img

Total ausklinken, total weg sein

■ Extremposing mit Luft: Heute abend findet im »Alhambra«-Kino im Wedding die 1. Berliner Luftgitarrenmeisterschaft statt

Musik ist nicht nur zum Hören da. Man kann sie mitsummen, mitsingen, taktvoll tanzen oder sich voll und ganz den Zuckungen ausliefern, die sie in den Gliedmaßen verursacht. Hardrock-, Blues- und Metal-Fans halten dabei gelegentlich imaginäre Gitarren in den Händen. Unter wirrem Augenrollen entwickeln die Luftgitarristen eine Dynamik, die B.B. King, Rory Gallagher, Jimi Hendrix und manch andere zu einem unerhörten Gig vereint.

Jahrzehntelang fanden diese Temperamentsausbrüche meist im Dunkeln statt, entweder zu Hause hinter heruntergelassenen Jalousien oder in schummrigen Diskotheken. Frank Renzel alias Käpt'n Kirk ist es zu verdanken, daß die Luftgitarren nun auch in Deutschland öffentlich befingert werden. Wie fast alles Neue in der Musikszene kommt auch dieser Publikumsrenner ursprünglich aus London. Kirk sah einen Wettbewerb britischer Spieler im »Power House« und versuchte sich auch gleich gegen die harte Konkurrenz von der Insel. Doch die Lokalmatadoren hatten die Nase vorn. Kirk reiste weiter nach Dublin, wurde dort ein »Master of Airguitar«, und ist seitdem ungeschlagen. Deutscher Champ wurde er im Hamburger »Zeschke«, im »Alhambra« soll dieser Titel heute abend gegen die harte Konkurrenz von zehn Mitstreitern verteidigt werden.

Der Käpt'n ist sicher, daß dies auch gelingen wird, denn Luftgitarristen müssen »total ausklinken, total weg sein«, und das kann nun mal nicht jeder auf Kommando. Kirk glaubt fest daran, daß nach Rock 'n' Roll und Punkrock die Ära der Luftgitarre angebrochen ist. Sie wird das Lebensgefühl der Jugend in den kommenden Jahren entscheidend beeinflussen, denn »die Luftgitarre eröffnet vollkommen neue Dimensionen des schon totgeglaubten Extremposing auf der Bühne!« Und dort, unter den Scheinwerfern, ist alles erlaubt, was Spaß macht.

Richtig in Fahrt kommt Kirk bei AC/DC, doch hat er die Erfahrung gemacht, daß die Konkurrenz oft mit Schmalzgut punktet: »Da werden ganz finstere Dinger übernommen, wie zum Beispiel so ein Out of Space- Smooth wie ‘Mendocino' von Michael Holm. Dagegen kannste nicht an.« Im Gegensatz zu Karaoke wird niemand ausgepfiffen, auch wenn er die Luftgitarre schief hält, »wie beim Fußball im St. Pauli-Stadion — egal, wie schlecht man ist, es wird nur geklatscht.«

Nicht beklatscht wurde bisher nur ein Punkrocker, der sich mit den Worten ankündigte: »Ich bin der Abschaum, mir ist egal, was Ihr wollt« — und dann versuchte, sich mit einer zerborstenen Bierflasche zu entleiben, während »Fuck the dead!« von »Alien Sex Fiend« aus den Boxen dröhnte. »Dabei ließ er seinen Dödel raushängen, echt finster«, klagt Kirk.

Damit so etwas nicht noch einmal vorkommt, hat Käpt'n Ahab, der Promoter und Moderator der Show, alle Luftgitarristen begutachtet, die im »Alhambra« gegen Kirk antreten wollen. Käpt'n Flint ergänzt das Erfolgstrio aus Fintel, einem kleinen Dorf im flachen Land bei Hamburg. Flint ist für die Partymusik vor und nach dem Wettbewerb zuständig, und da ist vor allem Rock'n‘Roll und Punkrock angesagt, »auch wenn er ab und zu ein paar Muffausfälle hat und Manfred Mans Earth Band spielt«.

»Das muß verhindert werden!«, fordert der Meister der Luftgitarre vom Berliner Publikum. Wie das geschehen soll, bleibt unklar, eines ist jedoch gewiß: die ZuschauerInnen entscheiden mit ihren Stimmen, wer heute abend als Deutscher Meister der Luftgitarre das »Alhambra« verläßt. Werner

Heute Abend in den Räumen des Alhambra-Kino, Wedding, Müllerstraße 136, U-Bahnhof Seestraße, Eintritt: 10 Mark, im Eintrittspreis enthalten ein Freigetränk, Einlaß ab 20.30 Uhr.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen