piwik no script img

Tollkühne geistige Sprünge

■ betr.: „Grüne Prätorianer“ von Thomas Schmid, taz vom 6.3.98

Der Philosoph Ludwig Feuerbach hat vor etwas mehr als 150 Jahren geschrieben, daß die Dinge nicht anders gedacht werden dürfen, als sie in der Wirklichkeit auch vorkommen. Und daß das, was in der Wirklichkeit getrennt ist, im Gedanken nicht auf einmal identisch sein kann. Kurz vorher, in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, hat ein anderer Philosoph, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, in seinen Vorlesungen an der Berliner Universität die Französische Revolution gefeiert als Anfang einer neuen Epoche. Ab jetzt sollte sich unterordnen die Wirklichkeit dem Gedanken des Rechts, konkretisiert in der Verfassung. Als wäre die Zeit stehengeblieben und als hätten die Materialisten Feuerbach und später Marx völlig umsonst gelehrt, baut Thomas Schmid unbeeindruckt weiter an einer Konstruktion im Reich der Ideen. Zwischen den virtuellen Pfeilern „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“ spannt er sein Drahtseil, um darauf tollkühne geistige Sprünge darzubieten. Schaut er aus der luftigen Höhe nach unten, so graut ihm vor der Wirklichkeit. Nichts und niemand macht es ihm recht. Überall spielt sich nur wirkliches Leben ab: Menschen, die ihren schnöden wirtschaftlichen Geschäften nachgehen, die einen, wenige, die dabei gute Gewinne machen, die anderen, viele, die das bezahlen müssen, zunehmend sogar mit dem Verlust ihres Arbeitsplatzes. Die schönen Ideen – Freiheit und Gerechtigkeit – befleckt und verspottet. Und der Staat selbst, der angeblich dafür sorgt, daß „das Verhältnis beider zueinander stets austariert“ ist, kann seine Arbeit nicht mehr leisten, so setzen ihm die widerstreitenden Interessen zu.

Ob soviel Unverstand und menschlichen Lastern graust es einem deutschen Intellektuellen. Und verzweifelt hält er Ausschau nach unverbrauchteren „Prätorianern“, die ihm sein Wolkenkuckucksheim beschützen sollen. Die Grünen als die Bodyguards der Republik. Er kommt etwas spät mit seiner Idee, da diese in Wirklichkeit schon längst umgesetzt ist und vielleicht nur noch der Regierungsbeteiligung auf Bundesebene bedarf, damit ihre Realität von jedem bemerkt wird. Dem Autor sei versichert, daß aber auch diese kosmetische Maßnahme nichts an den wirklichen Sachverhälten ändern wird: Das, was er für das „Wunder der Demokratie“ hält, ist eine beinharte Veranstaltung des Kampfes zweier Klassen. Und der angeblich „austarierende“ Staat ist ein Machtinstrument der herrschenden Klasse zu deren Nutzen. Die Menschen, die zur Arbeiterklasse gehören, bekommen es, seit einigen Jahren zunehmend, zu spüren. Respekt vor dem „Verfahrensmäßigen“ dessen, was hierzulande Demokratie genannt wird? Drunter machen es die Intellektuellen auf ihrem Drahtseil nicht. Derweil wendet sich das einfache Volk kopfschüttelnd ab, und tut, was es tun muß: Kämpfen, unter anderem, damit deutsche Intellektuelle mit ihren Ideen nicht erneut abstürzen, sondern endlich Boden unter die Füße bekommen. Wolfgang Maul, Nürnberg

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen