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Tolle Momente der Peinlichkeit

Mit „Der Wunde Punkt“ von Antje Pfundtner widmet sich das Staatstheater Hannover der Scham: Ein performativer Abend, der das lastende Gefühl mitunter zum Schweben bringt

Von Jens Fischer

Da steht er. Übermächtig. Unverrückbar. Wirkt irgendwie falsch hier. Daher sind alle Blicke auf ihn gerichtet, den überlebensgroß in den Hannoveraner Staatstheaterwerkstätten gefertigten Elefanten. Er soll auf der Ballhof Zwei-Bühne auf das unangenehm bekannte Gefühl der Scham verweisen. Das schlechte Gewissen, Erwartungshaltungen nicht zu genügen. Ein Schuldbewusstsein, das zur Sanktionsangst mutiert, aus der ein Drang zur Selbsterniedrigung erwächst, sich für schwach, schlecht, wertlos zu halten.

Scham ist keine Tugend, sondern ein Problem. Einen konstruktiven Umgang damit hat Choreographin/Regisseurin Antje Pfundtner anhand umfangreicher Recherchearbeit, vielen Interviews mit der 8. Jahrgangsstufe an der IGS Isernhagen und den Erfahrungen ihres vierköpfigen Ensembles erkundet. Die im Probenverlauf entwickelten Assoziationen wurden nun zur Uraufführung „Der wunde Punkt“ collagiert. Herausgekommen ist dabei ein klassisch performativer Abend. Er lebt von der Individualität und Präsenz der Ak­teu­r:in­nen, die offen mit ihren Schamerlebnissen umgehen, also unmittelbar aus sich selbst heraus auf das Thema einsteigen – etwa als Künstlerin mit Behinderung, Adoptivkind oder Junge, der sich mal in den Physiklehrer verliebt hatte. So entsteht schnell ein direkter Kontakt zum Publikum.

Scham entsteht aus dem negativen Abgleich des eigenen Denkens oder Verhaltens mit der moralischen und ästhetischen Norm des heimatlich-sozialen Milieus, wenn man sich mit dem urteilenden Blick der anderen sieht. Das Theater ist also ein idealer Ort, genau das zu fokussieren: Angeschautwerden ist für die Bühnenkunst zentral. In Hannover wird es ums Zurückschauen ergänzt, das auf Papphockern im Raum verteilte Publikum will man zum Mitmachen anregen. Dabei provoziert das Ensemble mindestens Momente der kleinen Schwester der Scham, der Peinlichkeit. Eine Zuschauerin wird ausfindig gemacht, die kürzlich Geburtstag hatte, um sie dann vor der ihr fremden Publikumsgruppe mit all den Kindergeburtstagsliedern immer und immer wieder hochleben zu lassen.

Theater Der Wunde Punkt, Staatstheater Hannover, wieder am 27. 11., 2. und 12. 12. sowie 6. und 27. 1., jeweils 18.30 Uhr, Spielstätte Ballhof Zwei, Knochenhauerstr. 28

Es wird auch gefragt, wofür sich jemand heute schon geschämt habe. Oder ob man sich schäme, inzwischen mit weniger Intensität über die Ukraine zu diskutieren als zu Beginn des Kriegs. „Das ist der Körper, den hast du doch schon immer gewollt“, sagt ein Performer, als er eine Statue mit idealisierter Nymphenphysis neben eine Zuschauerin stellt. Fragwürdig wird das Konzept, wenn Zu­schaue­r:in­nen mit improvisiertem Rap-Gesang in so einer Anbaggerfröhlichkeit angespielt werden: Das goutieren vielleicht nicht alle im avisierten Publikum ab 12 Jahren als ironischen Spaß. Auch Belehrungen irritieren: Die soziale Geste, andere am eigenen Reichtum teilhaben zu lassen, wird als Beschämung derjenigen tituliert, die kein Geld zu verschenken haben. Um Fremdschämen bei den Betrachtenden zu evozieren, tobt eine pöbelige Erwachsenenfigur durchs Geschehen.

Per­for­me­r:in­nen reichen Finger zum Umfassen und sie streichen über Wangen

Stets ist Scham als Disziplinierungsgefühl kenntlich, sich konform zu verhalten. Es lässt sich nicht wegleugnen. Ablenken funktioniert ebenso wenig wie Im-Boden-Versinken. So lautet der mehrfach vorgeschlagene Lösungsansatz: Stellt euch der Scham, anstatt sie im Verschweigen zu tabuisieren. Zusammenkommen, Beziehungen herstellen und dann offen miteinander reden. Daher fordern die Per­for­me­r:in­nen auch auf, sie zu berühren und sich berühren zu lassen. Reichen Finger zum Umfassen, Hände zum Streicheln. Streichen über Wangen. Während sie untereinander innige Umarmungen, Küsse und Tastabenteuer auf Kol­le­g:in­nen­hin­tern probieren.

Tanzen, auch zu popmusikalischen Peinlichkeiten, wird exzessiv gefeiert. Ein Schauspieler propagiert, Beschimpfungen in ein positives Selbstverständnis des eigenen Begehrens umzuwandeln, statt sich durch sie beschämen zu lassen. Er habe kein Problem damit, als Arschlecker und Schwanzlutscher bezeichnet zu werden – „weil es stimmt“. Ihn störe es auch nicht, durch häufiges Finger-in-den-Hals-Stecken gegen den Brechreflexreiz immun geworden zu sein, „denn so kann ich jetzt gut Blow Jobs geben“.

Es sind die aufgeklärten, reflektierten Rückblicke auf schamvolle Augenblicke, mit denen das Sujet vielschichtig aufgerissen wird. Das hat zwar Längen und einige Szenen sind schwach ausformuliert, hebt aber immer wieder zu fulminanten Spielsituationen ab. Das Ensemble infiziert das Publikum mit seiner Leichtigkeit des Seins und bringt den Umgang mit den zentnerschweren Schamlasten zum Schweben. Das macht sie beeindruckend verhandelbar. Schade nur, dass der Elefant am Boden bleibt und nicht am Ende fliegen lernt, wie Dumbo.

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