■ Die Einwohner Sarajevos sind weiterhin eingeschlossen: Tokio und die Barrikaden
Wenn heute jemand vom andern Ende der Welt in Sarajevo landen würde, ohne zu wissen, was sich noch vor wenigen Tagen hier ereignet hat, würde er wohl den Eindruck haben, daß die Stadt von einem Unwetter heimgesucht worden ist. Arbeiter klammern sich an Leitungsmasten und versuchen, die Straßenbahnen wieder in Bewegung zu setzen. Kleine Straßenreinigungsfahrzeuge spritzen den Asphalt ab (man fragt sich, woher sie plötzlich all dieses Wasser haben). Die Besitzer der kleinen Läden haben begonnen, die zerbrochenen Scheiben ihrer Schaufenster auszuwechseln.
Afan, ein bei uns sehr bekannter Maler, der gerade seine zweite Ausstellung seit Kriegsausbruch organisiert, sagte mir neulich: „Jüngst kamen Japaner in mein Atelier, um einen Haufen Fragen zu meinen Bildern, zu meiner Ausstellung und zur Situation im allgemeinen zu stellen. Schließlich fragte mich einer – ich nehme an, es war ihr Chef –, ob ich bereit sei, mit meiner Ausstellung nach Japan zu kommen. Er versicherte mir, daß seine Regierung alles organisiere und ich mich um überhaupt nichts zu kümmern brauche.“ Ich schaute ihn mit großen Augen an und traute meinen Ohren nicht. Er schaute mich auch an. „Alles, was ich ihm zur Antwort geben konnte, war eine Frage: Wie soll ich bei Ilidza weiterkommen?“
Ich weiß nicht, ob der Japaner die Frage Afans verstanden hat. Wahrscheinlich nicht, weil hier sich niemand mehr versteht. Es ist sehr schön, nach Tokio, nach Honolulu oder weiß ich wohin zu reisen. Man fordert uns von allen Seiten dazu auf, man unterstützt uns, man sagt uns sogar, daß man uns liebt und daß man von ganzem Herzen mit uns ist. Aber wie sollen wir die Barrikaden überwinden, die uns umgeben? Wie den Checkpoint, der drei Kilometer von hier entfernt liegt, umgehen, um ans Ende der Welt zu gelangen?
Vielleicht scheint Euch andern das stupid. Aber Tatsache ist, daß diejenigen, die weiterhin die Barrikaden halten und jedermann hindern, in die Stadt zu kommen oder sie zu verlassen, auf die japanische Regierung, auf Afan und auf seine Ausstellung pfeifen. Wer weiß, vielleicht ist der Krieg ja wirklich vorbei. Aber das Problem ist, daß uns das niemand so direkt ins Gesicht sagen will und auch jenen nicht, die immer noch stolz ihre Barrikaden halten. Zlatko Dizdarević
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