Tod nach Zwangsräumung: Hilflose Suche nach den Schuldigen
Nach dem Tod von Rosemarie F. in Berlin wird über die Verantwortung und ein mögliches Versagen der Behörden diskutiert. Aber es hat Hilfsangebote gegeben.
BERLIN taz | Zoltan Grasshoff erhebt schwere Vorwürfe: Der Tod von Rosemarie F. nur zwei Tage nach der Zwangsräumung ihrer Wohnung in Berlin sei „Mord durch die Staatsgewalt“, sagt er. Grasshoff ist der Organisator einer kleinen privaten Obdachlosenunterkunft, er hat sich zuletzt um die 67-Jährige gekümmert.
Der Piraten-Abgeordnete Alexander Morlang sieht die SPD in der Verantwortung: "Sozialdemokratie ist tödlich. Danke, liebe Verräter!", twittert er. Auch viele Teilnehmer der Trauerkundgebung am Freitagabend vor der ehemaligen Wohnung der schwerbehinderten Frau im Berliner Bezirk Reinickendorf fragen sich: Wie konnte es zur Räumung kommen? Warum hat ihr keine Behörde geholfen?
Im vergangenen Jahr reicht die Vermieterin von Rosemarie F. eine Klage ein, die sie unter anderem mit nicht gezahlter Miete begründet. Zudem schaltet die Vermieterin den Sozialpsychiatrischen Dienst ein. Das Sozialamt, von dem Rosemarie F. eine Grundsicherung erhält, hat die Mietzahlungen eingestellt, nachdem die Rentnerin den Kontakt zur Behörde eingestellt hatte. Zu dem Gerichtstermin erscheint Rosemarie F. nicht, sie schickt auch keine Entschuldigung.
Die Zivilprozessordnung schreibt vor: Wer vor Gericht nicht erscheint, verliert den Prozess automatisch. Es ergeht ein sogenanntes Versäumnisurteil, ohne dass das Gericht prüft, ob die von der Vermieterin erhobenen Vorwürfe überhaupt richtig sind. Gegen das Versäumnisurteil kann Rosemarie F. innerhalb von zwei Wochen Einspruch einlegen, damit das Verfahren neu aufgerollt wird. Sie verpasst den Termin.
Den Überblick verloren
Am 21. November 2012 hält Rosemarie F. von der Gerichtsvollzieherin die Mitteilung über die Räumung. Sie nimmt sich einen Anwalt, der dem Gericht mitteilt, Rosemarie F. habe von dem Verfahren bisher nichts gewusst, weil sie ihre Post nicht geöffnet habe. Das kommt immer wieder vor bei Personen, die überfordert sind und den Überblick verlieren.
Doch juristisch gesehen kommt es darauf nicht an. Durch das Urteil hat die Vermieterin das Recht, die Wohnung räumen zu lassen. Am 21. Februar dieses Jahres haben Mitglieder des Bündnisses Zwangsräumung verhindern gemeinsam mit Rosemarie F. einen Termin bei dem Sozialstadtrat des Bezirks Reinickendorf, Andreas Höhne (SPD), und schildern ihm den Fall. Höhne sagt zu, das Sozialamt werde die Mietschulden übernehmen. Seine Mitarbeiter setzen sofort ein Schreiben auf, das dies bestätigt.
Höhne persönlich ruft die Vermieterin an. Doch die lehnt ab und besteht weiterhin auf der Räumung der Wohnung. Jetzt geht es nur noch um den Termin. Der Anwalt beantragt bei Gericht, die Räumung um mindestens ein halbes Jahr zu verschieben.
Laut Zivilprozessordnung ist ein solcher Schutz möglich, wenn die Vollstreckung „wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist“. Der Anwalt legt das Attest eines Hausarztes vor. Das Amtsgericht Wedding weist den Anwalt mehrfach darauf hin, es benötige ein Attest eines Facharztes. Zudem reiche die allgemeine Bescheinigung über eine Erkrankung nicht aus. Ein Arzt müsse ihr attestieren, dass durch die Räumung eine konkrete Verschlechterung ihrer Gesundheit drohe.
Rosemarie F. lässt sich daraufhin in einem Krankenhaus untersuchen. Laut der Einlieferungsbescheinigung „erscheint die Wohnungsräumung aus medizinischer Sicht nicht zumutbar“. Andererseits heißt es dort auch, dass „aktuell keine akute Eigen- oder Fremdgefährdung vorliegt“. Das Krankenhaus nimmt Rosemarie F. nicht stationär auf, sondern entlässt sie wieder nach Hause. Das Amtsgericht lehnt den Antrag, die Räumung zu verschieben, am 5. April ab.
Der Anwalt legt am 8. April Beschwerde ein, die das Gericht am gleichen Tag zurückweist: Rosemarie F. habe „nach wie vor kein fachärztliches Attest vorgelegt, aus dem sich eine Räumungsunfähigkeit ergibt“. Am gleichen Tag weist auch das Landgericht in zweiter Instanz die Beschwerde ab: Das Krankenhaus habe Rosemarie F. „keine aktuelle Eigengefährdung bescheinigt“. Aus den Attesten sei „nicht ersichtlich, zu welchen gravierenden gesundheitlichen Folgen für die Schuldnerin gerade die Räumung der Wohnung führen würde“.
Körperlich abgebaut
Laut dem Gesundheitsstadtrat von Reinickendorf, Uwe Brockhausen (SPD), hat der sozialpsychiatrische Dienst mehrfach versucht, Kontakt zu Rosemarie F. aufzunehmen. Man habe es über ihren Anwalt versucht, sie direkt angeschrieben und ihr Nachrichten an der Türe hinterlassen. Sie habe nicht reagiert. Anfang April ist Rosemarie F. auf einer Demonstration gegen eine Zwangsräumung im Berliner Bezirk Neukölln. Falls sie ihre Wohnung verliert, sagt sie, werde sie sich keine neue suchen. „Nie mehr“ wolle sie vom Sozialamt abhängig sein. „Wenn ich auf der Straße lande, hat das der Staat zu verantworten.“
Am 9. April ist ihre eigene Zwangsräumung. 80 Protestierer sind gekommen, 150 Polizisten, eine Gerichtsvollzieherin. Rosemarie F. ist bei Bekannten. Nach 20 Minuten sind die Schlösser ausgetauscht, damit ist der Termin vorbei. Rosemarie F. hat keinen Zutritt mehr zu der Wohnung. Sie kommt in der Obdachlosenunterkunft von Zoltan Grasshoff unter, baut körperlich stark ab. Ein Spaziergang über 500 Meter dauert eine halbe Stunde, sagt Grasshoff, währenddessen habe sich Rosemarie F. mehrmals erbrochen. Die Einlieferung in ein Krankenhaus habe sie abgelehnt.
Am 11. April findet ein anderer Bewohner sie regungslos auf ihrem Bett. Rosemarie F. ist tot. Der Kampf um die politische Deutung beginnt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja