: Tochter Trotzkis ertränkt
■ Retrospektive des britischen Filmemachers Ken McMullen im fsk — die Berliner Erstaufführungen »Zina« und »Ghostdance«
Irgendwo im winterlichen Berlin der sterbenden Weimarer Republik nimmt sich am 5. Januar 1933 gänzlich unbemerkt eine irre, unbekannte russische Emigrantin das Leben. Der Tod der 30jährigen Sinaida Bronstein ist eine Winzigkeit am Rande der turbulenten Weltgeschichte. Dreieinhalb Wochen später wird Hitler die Macht übernehmen. In der jungen Sowjetunion wütet Stalin mit seinem Terrorregime. Im Exil auf der türkischen Insel Prinkipo im Marmarameer erfährt der Vater der Roten Armee, Leib Bronstein, genannt Leo Trotzki, vom Ende der Sinaida Bronstein, seiner Tochter Zina.
Mit der Berliner Erstaufführung Zina startet das fsk eine Retrospektive von Filmen des bei uns kaum bekannten Briten Ken McMullen. Zina erzählt, sucht und erklärt in grandios komponierten Bildern die Geschichte von der »unbedeutenden Tochter des bedeutendsten Mannes unserer Zeit«, wie sich Zina Bronstein selbst bezeichnete. Es ist eine vielschichtige, symbolüberfrachtete, psychoanalytische Reise ins Innere einer jungen Frau, die langsam verrückt wird. Einsam, verwirrt, zwischen Selbsthaß und -überschätzung driftet Zina durch das düstere, winterliche Berlin. Ihr einziger Gesprächspartner und Zeuge ist der deutsche Psychoanalytiker Dr. Kronfeld (Ian McKellen), den sie auf Anraten des großen Trotzki aufsucht. Zusammen mit Kronfeld versucht Zina Klarheit in ihre brodelnde Gedankenwelt zu bringen.
Für Kronfeld ist sie »Fräulein B.«, für sich selbst abwechselnd ein völliges Nichts, dann wieder Trotzkis wichtigste Stütze und schließlich gar der große Revolutionär selbst. Sie sehnt den lieblosen Vater herbei, doch eine Einreise ins Deutsche Reich wird dem Exil-Revolutionär nicht gestattet. Daß für Trotzki tausend andere Dinge Vorrang haben, wird Zina in den Sitzungen bei Dr. Kronfeld in visionären Rückblenden zwar immer wieder klar, ihr Geist verdrängt, verneint, verdreht dies jedoch immer wieder. Zina B. verklärt den Vater, Erinnerungen an den Bombast der russischen Revolution wechseln mit Visionen vom Untergang des zivilisierten Deutschland um sie herum. »Wer bist du, Papa«, ruft sie — doch der Gerufene bastelt gerade am Weltenlauf. In der »permanenten Revolution« ist kein Platz für die schwierige kleine Tochter. Es gelingt Zina nicht, eine eigene Identität zu finden, sie ertrinkt in der Weltgeschichte. Dieser Konflikt zwischen dem winzigen »Ich« und der Übermacht der Historie ist das Thema Ken McMullens, nicht jener Geschichtsbuch-Trotzki, der nur als Nebenfigur und eleganter Anführer eines revolutionären Exil-Hofstaates eine merkwürdig oberflächliche Rolle in dieser archaischen Tragödie spielt.
Der Film lebt von einer fast nicht mehr aufnehmbaren Vielfalt an Symbolen, Botschaften, Assoziationen — und vor allem auch von der schauspielerischen Meisterleistung der Domiziana Ciordano, die in langen, niemals monotonen, majestätischen Wahnsequenzen Zinas letzte Kämpfe noch einmal führt. Eine elegante, überästhetische Denkarbeit, für ein Publikum, das bereit ist, sich auch überfordern zu lassen...
Verwirrender, weniger dicht, aber schneller ist McMullens früherer Film Ghostdance (Geistertanz) von 1983, der im postzivilisierten Großbritannien der Margaret Thatcher spielt. Pascale, eine junge Pariserin, ist nach London gekommen, weil sie »die Dritte Welt studieren wollte«. Die junge Anthropologin ist besessen von uralten, primitiven Kulten. Zusammen mit Marianne, einer jungen Londonerin, durchstreifen sie die realen, düsteren Industrie- und Großstadtlandschaften der Metropolen Paris und London, die nichts mehr zu bieten haben. Die beiden Frauen suchen nach den Geistern von vorgestern. Archaische Kulte, Beschwörungen, vergessene Rituale müssen irgendwo in der großen Leere überlebt haben, vielleicht in den primitiven Tiefen der Sexualität, in der Perversion, im geheimnisvollen Instinkt des modernen Menschen, oder in einem Mord... Vielleicht aber auch in der nicht mehr einsehbaren, mysteriösen inneren Verschlungenheit der Computer. Begleitet werden sie eine Strecke des Weges vom französischen Philosophen Jacques Derrida, der selbst in dem McMullen-Film mitspielt.
Ghostdance ist eine verwirrend verschlungene, überfrachtete Flucht aus der realen, geheimnislosen Gegenwart, ein Bilderregen, den man auf sich hereinprasseln lassen muß, ohne die essayistischen Ergüsse restlos in eigene, geordnete Kanäle lenken zu können. Ein Film für kalte Herbstnächte und Leute, die ohne Action im Kino auskommen können. Thomas Kuppinger
Die Ken McMullen-Retrospektive vom 15.-21.11. im Kreuzberger fsk, Wiener Straße 20, startet mit »Ghostdance« (1983, OmU), gefolgt von »Zina« (1985, OmU) und »Resistance« (1976, OF). Ken McMullen wird in der zweiten Woche der Retro im fsk anwesend sein.
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