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Tischsitten

■ Die Vorbilder für den runden Tisch kommen aus Polen und Ungarn / Aber ein Tisch gleicht dem andern

Die Vielfalt an Tischordnungen, die in diesem Jahr in den sozialistischen Ländern ausprobiert werden, könnte einem größeren Möbelgeschäft zur Ehre gereichen; von runden, wackligen bis zu dreieckigen ist alles im Angebot - und keiner gleicht dem anderen.

In Polen wurde im Februar dieses Jahres der erste geschreinert: ein runder Tisch, an dem eine starke, einheitliche Opposition mit einer ratlosen kommunistischen Regierung einen neuen Gesellschaftsvertrag aushandeln sollte. Solidarnosc hatte die acht Jahre der Illegalität nicht nur - einzigartig in Osteuropa - ohne Schaden überwintern können, die Gewerkschaft hatte sich ebenfalls in einer Unzahl von Denkzirkeln Kompetenz angeeignet.

Ausgelöst wurde der Dialog durch die Herbststreiks 1988. Innenminister Kiszczak hatte Lech Walesa einen runden Tisch versprochen, falls dieser die Arbeiterstreiks beenden könne. Walesa ließ sich auf den Pakt ein, gegen starke Widerstände der Basis. Als im Februar dann zu Tisch gerufen wurde, schwebten wieder Streikdrohungen über der paritätisch besetzten Tafel. Die PVAP stimmte ohne großes Sträuben einer Zulassung von Solidarnosc und einer Wirtschaftsreform zu. Etwas mehr Drucks bedurfte es, um die Zulassung der Studenten- und Bauerngewerkschaften zu erreichen sowie freie Wahlen, Parteien und eine unabhängige Presse.

Am 3. April wurde der Vertrag vom runden Tisch unterzeichnet, im Juli wurde gewählt, und schon im August war die Regierung Mazowiecki im Amt - die erste nichtkommunistische in Osteuropa.

Während in Polen schon der Wahlkampf lief, setzte sich Ungarn an seinen Tisch, der Intention nach ein runder, real ein vielseitiger, in der offiziellen Sprachregelung ein dreieckiger. An ihm nahmen die regierende Arbeiterpartei USAP, die Opposition und parteinahe „soziale Organisationen“ wie die offiziellen Gewerkschaften Platz. Die Opposition war mit neun ideologisch grundverschiedenen Gruppierungen vertreten: den nach 1948 aufgelösten Altparteien, den Jungen Demokraten FIDESZ, dem Bund der freien Demokraten und der Demokratischen Liga der freien Gewerkschaften. Alle neun hatten sich vorher zu einem Hors d'oeuvre zusammengefunden, um eine einheitliche Haltung zu finden. Denn Kalkül der USAP war es - wiederum im Gegensatz zu den polnischen Genossen -, sich selbst als führende Reformkraft zu profilieren und aus dem Lager der Opposition Parteien in eine Koalition einzubinden. Ziel des Tischgesprächs war die Ausarbeitung einer Verfassungsreform mit einem Mehrparteiensystem. Am 18.September wurde dann von USAP und sechs der Oppositionsparteien ein Dokument unterschrieben, das eine völlig neue Verfassung, ein Parteiengesetz und ein reformiertes Strafgesetz vorsieht. Der Präsident soll nun vom Volk direkt gewählt werden. Am 26.November werden die Ungarn in einem Referendum über die Ergebnisse des dreieckigen Tisches abstimmen.

Alexander Smoltczyk

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