Tickets für die EM: Ausverkauf der Leerstellen
Obwohl für die EM fast alle Karten verkauft wurden, bleiben bei den ersten Spielen viele Plätze leer. Einen Teil der nicht genutzten Karten hat die Uefa verteilt.
KIEW taz | Das Thema ist Markijan Lubkiwski wirklich unangenehm. Als früherer Botschafter gibt der ukrainische Turnierdirektor einen prima Verkäufer ab, und aus seinem rundum verglasten Büro hat der beleibte Mann einen prima Blick auf das Olympiastadion in Kiew.
Jedem Gast kann er ausführlich erklären, wie toll die Stimmung bei dieser EM ist, aber er gibt sich ziemlich ratlos, wenn er ein Phänomen erklären soll, das sich speziell in seiner Heimat zeigt: Leerstellen auf den Tribünen.
Sogar beim Auftaktspiel der Ukraine gegen Schweden waren in den unteren Sektoren zahlreiche der gelben und blauen Plastikschalen unbesetzt geblieben, was nur bei näherem Hinsehen auffiel, da fast nur gelb-blau verkleidete Zuschauer im Stadion waren. Doch das Dilemma trat in Donezk beim Spiel Frankreich gegen England oder in Charkow zur Partie Niederlande gegen Dänemark offensichtlicher zutage. Wie passt das zu den Mitteilungen, es seien eigentlich fast 99 Prozent der 1,45 Millionen Karten für 31 Spiele abgesetzt?
„Die Tickets waren verkauft. Sie müssen die Leute fragen, warum sie nicht gekommen sind“, hat Lubkiwski nun mit vorwurfsvollem Unterton festgestellt. Und der EM-Beauftragte der ukrainischen Regierung, der skandalumwitterte Boris Kolesnikow, rügte in harschem Ton auf einer Pressekonferenz in Kiew gleich mal „die Uefa-Delegierten, die hatten viele Karten“. Damit ist der Ball an die höhere Instanz weitergeleitet.
Verantwortlich für die Aufteilung des gesamten Kontingents ist tatsächlich die Uefa. Die Dachorganisation schreibt im Detail nicht nur vor, dass 32 Prozent der Kapazitäten pro Spiel an die Fans beider Mannschaften verteilt werden, sondern zweigt jeweils rund ein Fünftel für die eigenen Sponsoren und die sogenannte Uefa-Familie ab. Dahinter verbergen sich Funktionäre jeder Couleur. Die wiederum verspüren zwar große Lust, zum Champions-League-Finale ins schöne München einzufliegen, bringen aber aber nur bedingt die Bereitschaft auf, ein EM-Vorrundenspiel in Charkow oder Donezk zu besuchen.
Die Preise sind explodiert
Zumal es im Lande das hausgemachte Problem der gierigen Hoteliers gibt, das Kolesnikow ansprach: „Vor der EM hat ein Zimmer hier 300 ukrainische Hryvnia gekostet, jetzt sind es 3.000. Das ist nicht schön, aber das ist der Markt.“ Nur bleiben dummerweise deshalb die vom ihm gern kolportierten 1,2 Millionen Fans, die angeblich in vier Wochen sein Land aufsuchen, und die angeblich fast 90.000 Menschen, die die Grenze zusätzlich nur wegen des Fußballs überqueren, Wunschdenken. Die Wahrheit ist, dass sogar die VIP-Klientel, für die nochmals fast 10 Prozent der Karten abgezweigt werden, den östlichsten Teil von Europa für eine Fußballreise meidet.
Der englischsprachigen Ausgabe der Kyiv Post liegen derzeit Flyer bei, die verzweifelt mit reduzierten Preisen für diese Areale locken. Die Abstinenz von Sponsoren, Funktionären und VIP-Kundschaft hat Folgen: Haupttribüne und Gegengerade bleiben selbst bei Spielen mit großem Namen lückenhaft. Lubkiwski rechnete vor, der Computer habe bei der Begegnung Frankreich gegen England angezeigt, dass weniger als 1.000 der 49.400 Plätze in der Donbass-Arena zur Verfügung gestanden hätten. „Das Spiel war fast ausverkauft, da können wir nichts machen.“
Allzu neu ist die Thematik Ticketing in der globalisierten Fußballwelt schließlich nicht. Bei der WM 2006 fürchtete der dafür zuständige Horst R. Schmidt nichts mehr als eine Fernsehkamera, die Lücken auf den Rängen zeigte. Abhilfe schaffte die findige Idee der Optionstickets. Im Voraus bezahlte Eintrittskarten wurden nur wirklich zugeteilt, wenn irgendwelche Rückläufer aus den eigentlich vergebenen Kontingenten kamen – ansonsten gab es das Geld zurück. Dank dieser Maßnahme – und der kurzfristigen Besetzung leerer Sitze durch Volunteers – konnte Deutschland der Welt proppenvolle Tribünen präsentieren.
Bei der EM 2008 in der Schweiz und Österreich regelte sich das Problem über einen recht florierenden Schwarzmarkt – überzählige Billetts ließen sich leicht veräußern. Eine solche Selbstregulierung greift an den ukrainischen Spielorten kaum – die Schwarzmarktpreise sind im Keller, und die Bevölkerung ist nicht gerade in Ekstase. In Kiew wurde in aller Eile ein zusammengezimmertes Ticketcenter vor dem Stadion eröffnet. Lubkiwski hat vorsichtshalber bereits darauf hingewiesen, dass es noch Karten für diesen Freitag gebe. Dann spielt England gegen Schweden. Gewiss nicht vor ausverkauftem Haus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?